Ach, was las man nicht alles im Vorfeld der jüngsten Opernproduktion der um ein Jahr verlängerten Salzburger Jubiläumsfestspiele von Mozarts «Don Giovanni» der nicht ganz unumstrittenen Herren, Regisseur Romeo Castellucci und Dirigent Teodor Currentzis. Nichts weniger als die «ungewöhnlichste» Lesart dieser ‹Oper aller Opern›, «welche die Welt je gesehen hat», wurde in Aussicht gestellt.
Als Erbauungsdrama zur Besserung der Person aus christlicher Sicht hatte der Geistliche Tirso de Molina den lästerlichen «Burlador de Sevilla» um 1619 auf die Bühne gebracht. Doch er, so Castellucci, wolle das Ethos christlicher Liebe ausklammern, das der Libertin so sträflich verletzt, und an dessen Stelle das archaische dionysische Prinzip, von keiner christlich-sittlichen Moral kontaminierte oder gar gebändigte Prinzip der Lust setzen.
Eigentlich nichts Neues. Doch sei’s drum. Jedenfalls lässt der Regisseur, noch bevor der Dirigent überhaupt mit seinen Luftumschichtungen beginnen darf, die cinema-scopisch breite Bühne des Grossen Festspielhauses – ein klassizistischer Kirchenraums in Weiss mit Pilastern, Apsis und zwei symmetrischen Ädikulä – radikal «entrümpeln». Eine befliessene Schar von Arbeitern in weissen Overalls entfernt den gesamten kirchliche Beirat: Gemälde, Standbilder, Kirchenbänke, Kandelaber, selbst das zentrale Giotto-Kruzifix über dem Altar.
Somit ist der Sakralraum zur profanen Theaterszene geworden, durch die jetzt ein alttestamentarischer Ziegen-/Sündenbock trippelt – oder soll das Vieh ein Bild für ausschweifende Satyriasis sein? Dann huscht eine Dame im Eva-Kostüm vorbei. Eine Feuerspur lodert auf. Man ertappt sich, wie man die Bildungsrelikte, die Assoziationssplittern, die Castellucci auslegt, zu deuten und einzuordnen versucht. Dabei ermahnt uns doch Currentzis im Pauseninterview, gar nicht erst alles verstehen zu wollen, sondern die Bilder unreflektiert wirken zu lassen. Für den Einsatz des Unterbewussten spricht der vorgehängte Gazeschleier, der das über vier Stunden dauernde Spektakel permanent in eine milchige Unschärfe taucht. Zudem prasseln immer wieder irgendwelche Objekte aus dem Nichts auf die Bühne: ein Auto; der Rollstuhl des Komturs; unzählige Basketbälle, die später vom «rachedürstenden» Ottavio abgestochen werden; ein Konzertflügel; eine Kutsche für Zerlina… Zum Finale des ersten Aktes stapelt sich das ganze Arsenal an Konsum- und Kulturgütern auf der Bühne, inklusive einer Beethoven-Büste, während im Hintergrund ein Feuerwerk abgeht.
Zwei Brüder im Geiste
Ebenfalls nicht so einmalig neu ist die Idee, den Don und seinen Adlatus als Inkarnation eines und desselben Hedonisten auftreten zu lassen: Leporello als Alter Ego seines Herrn, gegen den er sich einerseits auflehnt und den er andererseits bewundert, ja, ihm sogar nacheifert. Allerdings hat Peter Sellars diese Konstellation bereits 1990 mit seiner legendären Inszenierung mit dem – leiblichen! – schwarzen Brüderpaar Herbert und Eugene Perry rezeptionsgeschichtlich bedeutsam(er) vorgeführt. Auch bei Castellucci, der für Kostüme, Bühne und Licht zeichnet, treten Herr und Diener im gleichen Outfit auf: weisser dandyhafter Massanzug mit Bügelfalte und Gilet, gepflegter dunkler Bart, gleiche Frisur, fast gleiche Körpergrösse und sehr ähnliches Stimmtimbre, sodass sie man die beiden leicht verwechseln kann – woraus die Handlung, wie bekannt, ja einige theaterwirksame Effekte bezieht.
Die beiden Signori -– Davide Luciano als Don Giovanni und Vito Priante als Leporello – sind ausgezeichnete Sänger mit angenehmen, natürlich fliessenden Stimmen und genuin italienischer Diktion. Jedoch: Allzu viele gestalterische Farbnuancen können, wollen oder dürfen sie nicht einbringen. Dionysische Sinnlichkeit traut man dem Verführer vom Dienst nicht zu, dann doch eher eiskalten, mechanischen Sex. Ob das mit der Regieführung zusammenhängt, die peinlichst vermeidet, was sich in der Aufführungsgeschichte allenfalls schon mal bewährt haben könnte? Die dadurch jegliches komödiantische Spiel ausschliesst, wie es sich das Autorengespann 1787 ausgedacht hatte? Weder beim Ball noch in der Friedhofsszene, weder beim Kleidertausch noch bei der ultima cena – nirgends kommt es zu einer ergötzlichen Interaktion. Immerhin ist es aus dieser Sicht folgerichtig, dass der Komtur – Mika Kares mit imposantem Bass – für die Höllenfahrt unsichtbar aus dem Off singt. Aber dafür darf sich Don Giovanni für diese Szene Hemd und Hose vom Leib strampeln, um sich als Nackedei von Kopf bis Fuss mit weisser Farbe zu beschmieren, bis er aussieht wie sein eigener Gipsabguss. Ebensolche Gipsfiguren übernehmen im Sextett die Positionen der überlebenden Protagonisten, die sich aus dem Staub machen; an ihrer Stelle singt der Chor die Schlussmoral: «Questo è il fin di chi fa mal.»
Castelluccis Bilderflut, die sich mehr an bildender Kunst als an theatraler Dramatik orientiert, liess uns etwas abschweifen. Zurück also in den Orchestergraben, wo der Maestro seinem musicAeterna-Orchester endlich den Einsatz für die dräuenden d-Moll-Akkorde geben darf. Nicht nur in der Ouvertüre, auch während des ganzen Abends ist der Orchesterklang entspannter, weicher, transparenter – mitunter drängt sich allerdings das Continuo (Maria Shabashova, Hammerklavier) etwa sehr in den Vordergrund und erlaubt sich manch eine ungewohnte Caprice. Noch da, wenn auch sparsamer gesetzt, sind die bekannten furiosen Ausbrüche, die gehetzten Tempi, die willkürlichen Sforzati. Im rauschhaften Presto (Prestissimo) rast die sogenannte Champagner-Arie vorüber, zu der das Orchester hochgefahren wird und die Stroboskopblitze zucken – ein überraschender Effekt, na ja.
Generell jedoch sind die Tempi gemässigt, bisweilen sogar elegisch gedehnt, etwa in den beiden Ottavio-Arien. Was Michael Spyres jedoch souverän zu belcantistischen Fiorituren nutzt – vielleicht nicht ganz stilgerecht, aber hinreissend. Dabei muss der Ärmste regie- und kostümmässig einiges über sich ergehen lassen: ein der Lächerlichkeit preisgegebenes Weichei. Zu Beginn tritt er in blütenweiser Operettenuniform auf, später in tuntigem, mit Federboa besetztem Umgang, dann als Polarforscher Amundsen mit Sack und Pack, Flagge und aufgeschnallten Skiern und schliesslich als König mit Goldkrone und kraftlos baumelnden Armprothesen. Zu alledem führt er (Annas?) zwei weisse Pudel Gassi, erst einen kleinen, dann einen läppisch geschorenen grossen. Aber Spyres trägt’s mit Würde und kontert mit sublimem Legatogesang.
Störend wirkt die Verlangsamung oder gar der Stillstand zwischen den einzelnen Szenen. Beides hemmt den musikalischen Fluss und die Stringenz, die das dramatisches Genie Mozarts und Da Pontes diesem Werk in besonderem Masse eingeschrieben haben. Das zeigt sich ebenfalls bei den Rezitativen, die hier weit mehr sind als nur Scharniere zwischen den Musiknummern: der mäandrierende, lebhafte Duktus von Rede und Gegenrede, das italienische Brio fehlen über Strecken – mit dem Resultat, dass die Personen eher im Schönklang monologisieren, statt mit dem Gegenüber zu debattieren.
Stimmlich dagegen ist die Bilanz positiv. Und sie wäre wohl noch positiver, liesse der Maestro den Sängern ein bisschen mehr Freiraum, statt sie so straff seinem Willen zu unterordnen! Dadurch bleibt mitunter auch die geniale mozartische Musikdramatik auf der Strecke, was zwar im Einklang mit der Regie steht, die mehr Gewicht auf das optisch durchaus effektvolle Tableau legt denn auf die detaillierte Personenführung.
Donna Anna, von Nadesha Pavlova mit glühender Intensität, exquisiten Spitzentönen und gleichzeitig eindrucksvoller Mittellage gesungen, bleibt letztlich eine abstrakte Kunstfigur. Bezeichnenderweise – oder müsste man sagen: verräterischerweise lässt Castellucci die Geschändete in ihrem Auftritt von fünf schwarz verhüllten erinnyenhaften Klageweibern umflattern, die dem Don stellvertretend auf den Leib rücken, während im Hintergrund einer mit Bällen jongliert. Dann kündigt sich der Komtur durch den erwähnten herabkrachenden Rollstuhl an, zurückbleibt statt einer Blutlache seine Krücke. Und damit der beschränkte Ottavio es auch kapiert, wird ihm zu «Or sai chi l’onore...» die Vergewaltigungsszene mit einem Double auch gleich auf einer Matratze vorgespielt. Filmreife, starke Bilder, gewiss; nur, je länger der Abend, desto stärker setzt sich der Eindruck des eitlen Selbstzwecks fest.
Nicht weniger explizit ist Elviras Auftritt, der Federica Lombardi berührendes Profil gibt, wobei Trauer den Furor überwiegt. Ein nacktes, schwangeres Double belegt anschaulich die Folgen der «donnesche imprese» des skrupellosen Lüstlings, und wenig später führt Elvira als Alleinerziehende auch noch den Buben herein, vor dem sich Papa Giovanni mit Widerwillen abwendet. Das ist zwar komisch, aber nicht lustig. Ebenso wie die verschenkte Register-Arie, wo ein verdoppeltes Kopiergerät, dem genüsslichen Erzähler Leporello jegliche Möglichkeit zum reizvollen Spiel raubt – zumindest könnte die Maschine doch 1003 und ein paar hundert mehr Personalblätter mehr ausspucken!
Ähnliches gilt für die Bauernhochzeit zwischen Zerlina – Anna Lucia Richter mit lichtem, etwas wenig geschmeidigem Sopran – und Masetto – David Steffens mit fast etwas zu elegantem Bariton für einen gehörnten Bräutigam. Zu ihrem charmanten Duettchen wird ein Apfelbäumchen hereingefahren – eine Anspielung auf den Pomeranzebaum in Mörikes berühmter Novelle, welche die Entstehung just dieses Stücks thematisiert? Im Hintergrund sortieren die Bauersleute die heurige Apfelernte am Fliessband, vorne lockt Zerlina-Eva mit einem goldbesprayten Pomo d’Oro als verbotener Frucht – irgendwie hatten wir’s andersrum im Kopf, aber wir sollten ja nicht nach Erklärungen suchen! Jedenfalls beweist –man ahnt es! – erneut ein nacktes Double, was der Wüstling unter Apfelernte versteht.
Gruppenbild mit Damen
Der zweite Akt steht im Zeichen der monumentalen Gruppenbilder mit Damen. Hierzu hat die Regie 150 Salzburgerinnen «d’ogni forma, d’ogni età» aufgeboten. Was ein reizvoller Einfall ist, auch wenn Leporellos Katalog keine entsprechenden Einträge liefert. Diese Frauenriege liefert den Bewegungschor im Hintergrund, mal im rosa Tüll, in hautfarbener Unterwäsche, im weissen Hängerkleid; mal statisch, mal wogend und wallend, eurythmisch oder schlicht kitschig. in der Friedhofszene schliesslich – ein beeindruckendes Bild! – fungieren Damen in schwarzer Ganzkörperverschleierung als makabre Grabmale.
Kostspielig war die Produktion mit Sicherheit, ob sie auch wirklich kostbar ist, bleibe dahingestellt: jedenfalls eine gigantische Bildinstallation zu Mozarts Musik. Und ein sehr langer Fernsehabend. Dass es auch weniger effekthascherischer und dennoch mit grosser Wirkung geht, bewies Christoph Loy letztes Jahr mit «Così fan tutte».
Bilder:© Salzburger Festspiele
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