Noch bevor die Ouvertüre zu Giuseppe Verdis «I vespri siciliani» mit ihren dumpf drohenden Schlägen von Pauke und Trommel anhebt, zieht eine schwarz gekleidete Frau eine längliche weiße Holzkiste – einen Sarg? – an einem Seil mit unangenehmem Schabegeräusch hinter sich her über die Bühne des Zürcher Opernhauses. Diese ist verstellt mit auf- und gegeneinander gestapelten weißen Containern, deren Silhouetten und Leitern sich scharf gegen das Schwarz des Hintergrunds abheben, dramatisch ins Licht gesetzt von Franck Evin.
Aus der Gran Piazza in Palermo, die das Libretto vorgibt, hat die Bühnenbildnerin Aida Leonor Guardia ein abweisendes, unwirtliches Hafenambiente gebaut. Unterstrichen wird dieser Eindruck von den wirren Video-Projektionen (Adriá Reixach), die später über die Wände der sich langsam verschiebenden und auf der Drehbühne rotierenden Metallboxen flimmern werden: Grausige Schwarzweiß-Bilder von Exekution und Krieg im Wechsel mit Ausschnitten aus Francisco Goyas Aquatinta-Radierungen zu «Los desastres de la guerra», welche die Gräueltaten der napoleonischen Besatzungsmacht im Kampf gegen die aufständische spanische Bevölkerung thematisieren – es hätten auch Bilder aus der jüngeren und jüngsten Gegenwart sein können; die blutige Historie dreht sich in endloser Spirale…
Jetzt, zu Beginn, zeigt die Projektion einen zu Boden gestreckten Mann in seinem Blut; wir sind im Jahr 1282; die gespenstische Sargschlepperin erweist sich als Herzogin Elena, die ihren ermordeten Bruder Friedrich beklagt. Im Ringen um die Herrschaft über das Königreich Sizilien, das seit 1265 mit päpstlichem Segen unter französischer Herrschaft steht, ist Friedrich als Mitstreiter des letzten Staufer-Thronprätendenten Konradin (Corradino) gemeinsam mit diesem hingerichtet worden. Das war 1268, und ab dato führen Karl I. von Anjou und seine französischen Besatzer, darunter der Vizekönig Guido de Monforte, ein rigides Regiment über Sizilien und Süditalien, deren Bevölkerung unter Willkür und enormen Steuerlasten schmachtet, was wiederholte Revolten provoziert. So am Ostermontag, dem 30. März 1282, den als Sizilianische Vesper bekannten Aufstand in Palermo, der unter Anführung des salernitanischen Arztes und Diplomaten Giovanni da Procida in einem Massaker gipfelt, in dem über 8000 Franzosen während des Vespergeläuts niedergemetzelt werden.
Vor diesem real-historischen Hintergrund vollziehen sich – in literarischer Freiheit – menschliche Dramen: Arrigo, ein sizilianischer Rebell, liebt die Herzogin Elena, die ihn auffordert, den Tod ihres Bruders zu rächen. Mit ihr verbindet ihn der Hass gegen den französischen Unterdrücker in der Gestalt des Vizekönigs Monforte. Doch ausgerechnet dieser Oberschurke ist Arrigos leiblicher Vater, er selbst der Spross einer Vergewaltigung. Zur problematischen Liebesgeschichte also noch eine hochkomplexe Vater-Sohn-Beziehung, die den Jüngling zwischen die Fronten geraten lässt, bedrängt von Monfortes etwas larmoyanter Vaterliebe und Elenas loderndem Rachedurst, aufgerieben zwischen politischer Mission und privaten Gefühlen. Als Monforte in einem Akt der Versöhnung die Liebenden zusammenbringen will und die Hochzeitsglocken erklingen, sind diese das Signal für das Blutbad...Ein absolut opernaffiner Stoff, wenn auch ein etwas gar heftiger!
In der Beschäftigung mit dieser Oper, seiner ersten Originalkomposition für die Pariser Grand Opéra, dürfte die Historie den italienischen Komponisten und erklärten Patrioten in vielerlei Hinsicht umgetrieben haben: Einerseits fand die Uraufführung der «Vêpres» am 13. Juni 1855 im festlichen Rahmen der Pariser Weltausstellung statt, womit das zunehmend autoritäre Regime des Second-Empire unter Napoléon III seine politische Stärke und wirtschaftliche Potenz zelebrierte. Anderseits lagen die blutige ’48er-Februar-Revolution mit der Absetzung des Bürgerkönigs Louis-Philippe sowie die hoffnungsvolle Proklamation der 2. Republik und Louis-Napoléons Staatsstreich erst wenige Jahre zurück. In Verdis Heimatland selbst galt zur Zeit des Risorgimento der in der Oper thematisierte sizilianische Aufstand als symbolträchtiges erstes Fanal der italienischen Einheits- und Freiheitsbewegung, in der sich Verdi als Bürger, Parlamentsabgeordneter und Musiker engagierte, obwohl die Aufführungen seiner Opern – erstaunlicherweise! – kaum nennenswerte politische Publikumsreaktionen auslösten wie etwa diejenigen Aubers und Meyerbeers. Solche historischen Parallelen sind bei der Rezeption von Verdis Œuvre und gerade auch bei der oftmals als missglückt, zumindest als problematisch erachteten «Sizilianischen Vesper» nicht zu übersehen.
Auch musikgeschichtlich hatte sich Verdi mit der Tatsache auseinanderzusetzen, dass die Blütezeit der Grand Opéra mit ihren imposanten Tableaus, massigen Chorszenen und einer effektvollen Balletteinlage eigentlich bereits vorbei war, stammten doch die Meilensteine dieses Genres mit Werken wie Halévys «Juive», Aubers «Gustave III – Le bal masqué» und vor allem Meyerbeers «Huguenots» und «Le Prophète» aus den 1830er-Jahren.
1847 hatte Verdi seine Oper «I Lombardi alla prima crociata» unter dem Titel «Jérusalem» für den Pariser Geschmack neu herausgebracht.
Das Triumvirat der Schöpfer der Grand Opéra (v. l. n. r.): Daniel-François-Esprit Auber (1782–1871), Fromental Halévy (1799–1862) und Giacomo Meyerbeer (1791–1864)
Mühsal, die einen Stier umbringen würde...
Als das Angebot der Pariser Opéra erfolgte, machte er als mittlerweile erfolgreicher Opernkomponist und wohl auch als politisch denkender Mensch es zur Bedingung, dass Eugène Scribe, der Textautor sämtlicher dieser bejubelten Großen Opern mit historischem Hintergrund, auch das Buch zur geplanten Komposition liefern sollte. Nach vielem Hin und Her fiel die Wahl auf «Les vêpres siciliennes», die der renommierte Librettist und sein Co-Autor Charles Duveyrier einst, nämlich bereits 1838 (!), Halévy angeboten hatten, und das schließlich Donizetti unter dem Titel «Le Duc d’Albe» vertont hatte, allerdings nur die beiden ersten Akte. Also eigentlich ein Ladenhüter, wie Verdi später monierte, obwohl ihm die Umstände bekannt gewesen waren. Mühsam verliefen denn aufgrund der mangelnden Kooperationsbereitschaft von Scribe wie auch des kapriziösen Ausscheidens der Primadonna die Probenarbeiten, was zahlreiche Briefe Verdis bezeugen: «Un’opera all’Opéra è fatica da ammazzare un toro», schreibt er dem Freund Cesare De Sanctis am 9. September 1854.
Der unmittelbare Aufführungserfolg war zwar respektabel, indes nicht sehr nachhaltig; das Werk verschwand rasch von den französischen Bühnen. In Italien erschien es aus Gründen der Zensur – der zündende Funke einer, wenn auch um Jahrhunderte zurückliegenden Revolte musste der österreichischen Besatzungsmacht natürlich missfallen! – anfänglich unter dem Titel «Giovanna de Guzman» und spielte statt im Palermo des 13. im Lissabon des 17. Jahrhunderts. Ab 1856, nachdem Verdi die Balletteinlage gestrichen und Arnaldo Fusinato eine entsprechende Übersetzung erstellt hatte, erhielt es den Titel «I vespri siciliani». In dieser Version, der auch die aktuelle Zürcher Produktion folgt, wird es heute zumeist aufgeführt.
Es wäre jedoch spannend gewesen, für einmal die französische Urfassung zu erleben, die in ihrer sprachlichen Zuspitzung und besetzt mit helleren Stimmen, zumal für Tenor und Sopran, der französischen Ästhetik in besonderem Maße entspricht, was eine Einspielung unter Mario Rossi eindrücklich belegt (Opera Rara ORCV303).
Die Sizilianische Vesper – Italienische Historienmalerei 1846, (Francesco Hayez, 1791–1883)
Große Tableaus, große Gefühle
In welcher Fassung auch immer: Unbestritten bleibt, dass die großen Themen Unterdrückung und Freiheitskampf, Liebe, Rache und Tod vor einer historischen Folie Verdi zu glühender Musik zu inspirieren vermochten, die vielleicht weniger melodienselig als in anderen Werken klingt, aber von leidenschaftlichem Grimm und bezwingender Schlagkraft erfüllt ist. Gerade aus dem Gegenüber von großformatigen Auftritten der Massen und den bis zum Äußersten gespannten Emotionen des Individuums bezieht das Werk seinen Reiz, im genialen Ausloten der Widersprüchlichkeit des Menschseins angesichts extremer Situationen.
Dieses Spannungsverhältnis scheint den Regisseur Calixto Bieito nicht zu interessieren. Lieber folgt er, nach eigener Aussage, den Bildern in seinem Kopf, den Erinnerungen und Prägungen durch Kindheit und Sozialisierung – beispielsweise katholische Riten, Goyas Bildgewalt, Buñuels Surrealismus –, um daraus die Erzählung, die Geschichte zu entwickeln. Dabei müsste der Prozess in umgekehrter Richtung laufen – selbst wenn es in raren Momenten dramatischer Dichte gelingen mag, bildstarke Visionen zu erzeugen. Die psychische Befindlichkeit der einzelnen Personen scheint ihn wenig zu kümmern, denn dies hätte einer subtilen Personenführung bedurft. Stattdessen bewegen sich die Akteure mit stereotypen Gebärden zumeist an der Rampe. Und kommt doch etwas Interaktion auf, so beschränkt sich diese auf opernhaft stilisierte Gesten – etwa, wenn Arrigo Elena in den Arm fällt, um Monforte von dem drohenden Dolchstoß zu bewahren. Oder wenn er sich mit Faustschlägen aus der väterlichen Umarmung befreit.
Geradezu platt wirkt es, wenn sich die französischen Besatzer Eberköpfe aufsetzen, um ihr wüstes Treiben zu unterstreichen – schon klar, Männer sind eben Schweine. So lenkt Bieito den Fokus klar auf die Darstellung der sexuellen Gewalt gegenüber den Unterlegenen, namentlich den Frauen, die – wir erfahren es tagtäglich mit Schaudern – Teil der Kriegsführung ist und schon immer war. Bieito bezieht sich dabei auf eine Textstelle im Libretto, die ihrerseits auf den «Raub der Sabinerinnen» als unschöne Episode des Gründungsmythos Roms verweist. Für die Regie ist das Anlass, die zahlreichen Übergriffe und Vergewaltigungen in der bekannten Drastik zu zeigen: Da werden die sizilianischen Frauen reihenweise geschändet, wie erbeutetes Wild herumgereicht, geschultert, begutachtet, als Tote an den Füssen aufgehängt, hinter der Schiebetür eines Containers missbraucht, derweil über dessen Außenseite ein Video wabert: Fußball spielende Jungs in der Obhut eines Priesters in schwarzer Soutane – die Chiffre ist nun doch etwas zu simpel. Zu bedauern dagegen sind die exponierten Statistinnen.
Der Raub der Sabinerinnen – Sinnlickeit, Gewalt und Erotik, ein über Jahrhunderte
beliebtes Sujet in Malerei und Bildhauerei – Pietro da Cortona, 1629
Der Chor, von Verdi musikalisch als zwei unterschiedliche Gruppen gestaltet, präsentiert sich als amorphe Masse, wie die Solisten in einheitliches, wenig differenziertes Grau-Schwarz gekleidet, was die Zuordnung zu den verfeindeten Parteien erschwert (Kostüme: Ingo Krügler). Gesungen wird ausgezeichnet, agiert dagegen als statische Kulisse, gleich einem antiken Chórós, dessen Bewegungsarsenal sich auf theatralisch hochgereckte Arme und Fäuste beschränkt. Selbst in der vor Erregung und Spannung vibrierenden Ballszene – eine Vorwegnahme des «Ballo in maschera» – ist er nicht mehr als Staffage.
Ratlos macht sodann die Hinrichtungsszene, mit der sich Monforte das ominöse Wort «Vater» von seinem Sohn erpressen will, indem er ihn und dessen Verbündete, Elena und Procida, in Gitterkäfige, die an Hundezwinger erinnern, stecken lässt. Dann – während im Hintergrund das ergreifende «De-profundis-clamavati» des Chors erklingt (man denkt an den künftigen «Don Carlo») – werden die Drahtkörbe in einem ebenso umständlichen wie unnötigen Aktionismus mit Klemmen an Stromkabel angeschlossen – und, als das erlösende Wort endlich fällt, doch nicht in Betrieb gesetzt. Da wähnt man sich in einem überzeichneten Horrorfilm.
Etwas gesucht wirkt ebenso die oft stumme Präsenz von Elenas Zofe (Irène Friedli), die als mahnende Symbolfigur oder Allegorie des geschundenen Volks gelegentlich stumm und pathetisch durch die Szene schreitet.
Den Hauptdarstellern wird einiges abverlangt, was weder dem Gesang noch der Darstellung zugutekommt. Ihre erste Arie – es handelt sich um jenes Lied, das sie von den französischen Soldaten vorzutragen genötigt wird – singt Elena auf dem Sarg des ermordeten Bruders, den Monfortes Schergen auch noch auf ihre Schultern hieven, sodass die Sopranistin den Schluss stehend (und in Stöckelschuhen!) auf dem schwankenden Schrein absolvieren muss. Maria Agresta meistert diesen Auftritt souverän, wie sie auch die aufrührerischen Töne ihrer Partie mit der nötigen Schärfe auszustatten weiß. Allerdings müssen, vor allem gegen das Ende, auch einige intonatorische Schwächen in Kauf genommen werden, und dem berühmten Boléro im letzten Akt mangelt es ein wenig an Brillanz – Ermüdung, Premierenfieber…?
Darstellerisch verschenkt ist jene Szene, in der Arrigo der Geliebten sein persönliches Dilemma als «figlio naturale» des verhassten Monfortes enthüllt. Sergey Romanovsky alias Arrigo muss diese Szene eingezwängt in einem extrem schmalen, aufrechtstehenden Gehäuse – wiederum ein Sarg? – bewältigen, die nicht nur ihm jegliche Bewegungsfreiheit nimmt, sondern auch das natürliche Spiel zwischen den Liebenden massiv einschränkt. Stimmlich glänzt der Sänger über weite Strecken mit stählernem, etwas unflexiblem Tenor, den er in jugendlichem Impetus mitunter mit Lautstärke und Überdruck einsetzt.
Nachdem Alexander Vinogradov als Procida in seiner von Patriotismus und innigen Gefühlsregungen geprägten Auftrittsarie («O tu, Palermo») mit frei strömendem, gerundetem, aber etwas monochromem Bass gepunktet hat, gibt er im Schlussbild den fanatischen Drahtzieher mit entschiedener Härte und kraftvollem Aplomb, ihm zu Füssen eine Schar halbnackter, gefesselter Frauen – ein rätselhaftes Bild, und ein verstörendes...
Quinn Kelsey setzt ganz auf seinen imposanten, warm timbrierten Bariton für die Zeichnung des zwiespältigen Charakters des Monforte und beweist, dass er auch sensibler und inniger Töne fähig ist; darstellungsmäßig könnte man sich die Zerrissenheit des Vaters und Potentaten noch etwas differenzierter vorstellen.
Ivan Repušić am Pult der Philharmonia Zürich geht die vielerorts machtvolle Partitur mit entsprechend großer Geste und mitreißendem Brio an, auf der Strecke dagegen bleiben, trotz gewahrter Transparenz, die intimeren Zwischentöne und subtilen Farbnuancen – dies allerdings im Einklang mit der wenig subtilen Regie.
Schade, man hätte sich, dem Ensemble und dem Haus zum Abschluss der Spielzeit ein glanzvolleres Finale gewünscht als diesen raschen, von Buhrufen durchzogenen Applaus.
Szenenbilder: @ OHZ – Herwig Prammer
11. 06. 2024
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Letzte Inszenierung von Calixto Bieito: «Eliogabalo» von Francesco Cavalli
Tausend Dank für deine sehr geschätzten Mails.
Ich möchte dir versichern, dass ich deine Rezensionen mit grösstem Interesse und Begeisterung lese! Mit dem ausführlichen, wunderbar reichhaltigen Text und den tollen Aufnahmen ist man emotional schon halb in der Oper und im Geschehen drin! Nur „i Vespre siciliani“ werde ich mir ersparen….! (Danke für die Warnung!) Auch bei „Orf eo“ finde ich die Inszenierung schrecklich!!
L. E.
Ich freue mich, jeweils Deine Kritiken zu erhalten. Vielen Dank! Sie sind immer spannend und informativ. Vor allem möchte man dann alles stehen und liegen lassen und die von Dir besprochene Aufführungen besuchen.
I. B.
Ich habe Deine Kritik mit grossem Interesse gelesen und finde sie mega super!!!! Diesmal hat mir auch die lange Einführung sehr gefallen und hat mir vieles "klarer" gemacht. Vielen Dank!
V. F.
Sehr schön geschrieben - und Danke, dass einmal erwähnt wird, wie ungünstig sich eine Regie auf die Gesangsqualität der Solisten auswirken kann!
Ich habe Deinen Text zu den «Vespri» mit Ungeduld erwartet und mit grossem Interesse gelesen. Es ist immer spannend, die Details zu den Hintergründen zu erfahren. Ich danke Dir sehr, sehr herzlich für Deine Texte, die ich immer sehr gerne lese.
B- L.