Der Kreis schliesst sich. Zumindest fast! Als 1957 die erste szenische Aufführung von Arnold Schönbergs «Moses und Aron» über die Bühne des einstigen Stadttheaters Zürich ging, spielte … ja, welches Orchester? Das Orchester des Stadttheaters, wie es damals hiess? Oder das der Tonhalle? Fangfrage! Das Orchester des Theaters und das der Tonhalle war ein und dasselbe, auch wenn sich längst zwei Formationen gebildet hatten, die Blauen und die Roten. Aber genau definiert war das nicht, und es gab bei Bedarf auch immer wieder Wechsel zwischen den beiden Besetzungen. Es konnte sogar vorkommen, dass in der Probe ein anderer Musikers spielte als in der Aufführung. Und mitunter machten alle alles. Erst 1985 wurden die beiden Klangkörper formal getrennt und konnten so ihre eigenständigen Profile entwickeln.
Sergei Wassiljewitsch Rachmaninow (Gemälde von Konstantin Somow, 1925)
Jetzt sollen die beiden Orchester natürlich keineswegs wieder zusammengelegt werden. Doch auf Anregung der beiden Dirigenten, Gianandrea Noseda , GMD der Philharmonia Zürich, und Paavo Järvi, Chef des Tonhalle-Orchesters, stemmen Opernhaus und Tonhalle nun gemeinsam im Wechsel von Saal und Dirigent eine außergewöhnliche Konzertreihe. Anlass dazu ist der 150-jährige Geburtstag von Sergei Wassiljewitsch Rachmaninow (1873–1943). Von 1934 bis Kriegsausbruch lebte er in Hertenstein am Vierwaldstättersee, wo er sich im Stile des Bauhauses eine Villa errichten ließ, die nach zähen Verhandlungen jetzt endlich in den Besitz des Kantons Luzern gelangt ist und demnächst zu einem Kultur- und Musikzentrum ausgestaltet werden soll.
In vier Konzerten erklingen bedeutende Werke des Russen – vom sinfonischen Poem über die Klavierkonzerte bis hin zur großen Sinfonik. Den Anfang des vierteiligen Zyklus macht Noseda im Opernhaus; im März ist dann Kollege Järvi in der Tonhalle am Zug, und im November 2023 tauschen die beiden das Dirigentenpult, den Auftrittsort – und ihre Orchester.
Bild:@ Caitlin Ochs
© By courtesy Kaspar Sannemann
Zum Auftakt des ersten Anlasses erklang das 3. Klavierkonzert, d-Moll, op. 30, besonders populär geworden als Soundtrack des Films «Shine» mit dem nervenkranken australischen Pianisten David Helfgott. Rachmaninow schrieb es für sein Amerika-Début, und er soll es während der Überfahrt auf einem stummen Klavier eingeübt haben. Das Konzert aus dem Jahr 1909 steht zudem im Ruf, unter den grossen Klavierkonzerten dasjenige mit den meisten Noten pro Minute zu sein.
Wie dem auch sei, Yefim Bronfman am Steinway kann das jedenfalls nicht erschrecken. Mit einer natürlichen Selbstverständlichkeit schleicht sich der Solist nach zwei Orchestertakten mit einer liedhaften Melodie ins Spiel. Diese Natürlichkeit, diese Kantabilität und Klangsinnlichkeit prägen Bronfmans Spiel auch im Fortgang des Konzerts; in keinem Moment spielt er sich als Tastentitan auf und lässt so, selbst in den extravertierteren virtuosen Passagen, die technischen Schwierigkeiten fast vergessen. Er setzt nicht primär auf furiose Attacke, sondern stärker auf den energetischen Fluss, der wie in einer spannenden Erzählung das musikalische Geschehen vorantreibt und in Gang hält. Dazu glänzt das Orchester unter Nosedas feinfühligem Dirigat mit nuanciertem Klangspektrum und delikaten Farbschattierungen. Zu Recht brandete nach dem fulminanten Klangrausch des Finalsatzes der Applaus gewaltig hoch. In andere, intimere Klangräume entführte sodann die Zugabe: Chopins 2. Nocturne, Des-Dur, op. 27.
Der zweite Teil des Konzerts galt einem seltener aufgeführten Werk Rachmaninows: der viersätzigen Sinfoniekantate «Kolokola», Die Glocken, op. 35, für Chor, Soli und Orchester. Zugrunde liegt ihr ein betont onomatopoetisches Gedicht von Edgar Allan Poe, das von Konstantin Balmont ins Russische übertragen wurde und Rachmaninow sofort angesprochen hatte; er soll – wie die Quellen bestätigen – eine große Affinität zum Kang der Glocken gehabt haben, eine Liebe, die er mit vielen Russen teilt. Jeder Satz der assoziationsreichen Komposition ist einer anderen Arten von Glocken gewidmet – da russisch gesungen wird, sind die Klangmalereien allerdings kaum nachvollziehbar. Doch der kernige, expressive Tenor Sergey Skorokhodov trifft den Charakter der Schilderung der silbernen Schlittenglöckchen mit ihrem Gebimmel ausgezeichnet – man denkt unweigerlich an die «Petersburger Schlittenfahrt». Im zweiten Satz ertönen die Hochzeitsglocken, die goldenen, und erstmals auch die echten Röhrenglocken. Dazu passt nicht nur die leuchtend gelbe Robe von Elena Stikhina. Auch ihr bei aller Fülle geschmeidiger Sopran trifft die Stimmung hervorragend, nicht so sehr pompöser Jubelklang als vielmehr verinnerlichtes (Liebes-)Glück und schwärmerisch-sinnliche Lyrismen. Der dritte Satz ist ausschließlich dem Chor vorbehalten: Mit monumentalen Klangmassen schildert er das Erschallen von Alarmglocken, die vor Feuer, Sturm und Not warnen. Der von Janko Kastelic einstudierte Chor schafft ein cinemascope-reifes Tongemälde von eindringlicher Kraft. Der 4. Satz schließlich erzählt von der Totenglocke; hier bringt der sonore Bariton von Alexey Markov eine nachdenkliche Note ins Bild. Die Tonfolge des Dies-irae unterstreicht die Düsternis, der sich kurzzeitig zum makabren Totentanz steigert, am Schluss jedoch in Grabesruhe verstummt, um einem elegischen orchestralen Nachspiel Raum zu bieten, in das die Harfen überirdische Klänge zaubern. Gleichermaßen beklemmend wie ergreifend! Und mit den drei ausgesprochen russischen Solistenstimmen adäquat besetzt.
Ungebunden an Zeit und Ort vermitteln die Glocken ein tönendes Bild des menschlichen Schicksals von der Geburt bis zum Tod. Auch den Lauf der Jahreszeiten vom unbeschwerten Frühling bis zur winterlichen Erstarrung könnte man daraus lesen. Wenn man jedoch bedenkt, dass Rachmaninow dieses Werk 1913 in St. Petersburg, am Vorabend des Ersten Weltkriegs, zur Uraufführung brachte, und wenn man sich zudem die aktuelle geopolitische Lage vergegenwärtigt, so ergeben sich erschreckende und erschütternde Parallelen...
Weitere Konzerte des Rachmaninow-Zyklus:
Paavo Järvi, Tonhalle, 29./30. 3. 2023
Gianandrea Noseda, Tonhalle, 8./10. 11. 2023
Paavo Järvi, Opernhaus, 11.11. 2023
Weitere Beiträge finden Sie unter INDEX
Comentarios