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Sich die ganze Welt zum Thema machen


Forschungsreisender in den eigenen Wänden: Karl-Martin Gauß (Bild: @ Wolfgang Paterno)


Durch eine Lesung beim SWR2 bin ich auf das Buch eines Autors gestossen, den ich nicht gekannt hatte, obwohl er schon viele Bücher, Reportagen und Essays veröffentlicht hat und mit zahlreichen Auszeichnungen für sein Schaffen bedacht wurde. Unter anderem erhielt er den österreichischen Staatspreis für Kulturpublizistik: Karl-Markus Gauß, 1954 in Salzburg geboren, wo er heute als Essayist, Kritiker, Buchautor und Herausgeber der Zeitschrift «Literatur und Kritik» lebt.


Offenbar zwar schon vor der Corona-Krise entstanden, ist das Buch ein idealer Begleiter durch die Wochen und Monate, wo so vieles – vorab das Reisen – nicht oder nur sehr eingeschränkt möglich ist und die Menschen in ihrem Drang nach Ferne und Mobilität nolens volens auf ihre unmittelbare Umgebung, mitunter gar auf die eigenen vier Wände zurückgeworfen sind.

Gauß begibt sich nämlich auf eine Reise, die er mit Fug als «abenteuerlich» bezeichnet, durch seine Wohnung: «Eine abenteuerliche Reise durch mein Zimmer» nennt er also den schmalen Band. Inspiriert hat ihn gemäss eigenem Vorwort Xavier de Maistres (tatsächlich ein blaublütiger Ahne des bekannten französischen Solo-Harfenisten!) Aufzeichnungen «Reise durch mein Zimmer» (Voyage autour de ma chambre). Geschrieben hatte dieser die lesenswerten Texte 1790 anlässlich, nein, nicht einer Quarantäne, sondern während eines Hausarrestes, zu dem er wegen eines Duells verknurrt worden war. Diese unfreiwillige Musse nutzte er dazu, sich auf eine Miniaturreise innerhalb seines Zimmers zu machen als eine Art Gegenentwurf zu den damals im Schwange stehenden Reise- und Expeditionsberichten. Er beschreibt da die Bilder, Gegenstände und Möbel seines «Reduits» und macht sie zum Stimulans persönlicher und allgemeingültiger Reflexion. Das 1795 in Lausanne veröffentlichte Buch hat bis heute mehrere Autoren inspiriert.

So nennt Gauß denn als weitere Quelle die Aufzeichnungen von Sophie von La Roche, Witwe eines Hofrats und angesehene salonière und femme de lettres. In Ihrem 1799 erschienen Werk beschreibt sie nichts weniger als ihr Schreibstübchen mit dem Arbeitstisch, auf dem sie ihre Welt versammelt hatte, die Dinge, die sie beschäftigten und zum Denken und Schreiben anregten: ihre Papiere, ihre Bücher, Briefe, Notizen, Zettel...


Die Dinge meines Lebens

Es ist wohl nicht ganz zufällig, dass Gauß just zwei Vertreter der damaligen Oberschicht als geistige Paten erwähnt. Diesen standen neben anderen zwei Privilegien zur Verfügung, von denen das gemeine Volk nur träumen konnte: Zeit und Raum. Zweifellos hängt Gauß nicht irgendwelchen alten Zöpfen nach, aber er ist sich des Luxus bewusst, der seinen Alltag auszeichnet: Raum, «damit ich die Dinge meines Lebens ausbreiten kann, in denen ich mich selbst erkenne und sich die Jahre spiegeln, die die meinen waren». Und Zeit, «die ich mir nehmen kann, weil nie eine Büro- oder Anwesenheitspflicht über mich verhängt war und ich mir meinen Tag fast nach Gutdünken einteile». Noch heute ein Privileg, das es nicht hoch genug zu schätzen gilt!


Nun also nimmt uns Gauß mit auf eine ungemein vielfältige und lehrreiche Expedition durch sein Privates: Seine – jetzt, nachdem die Kinder ausgeflogen sind – geräumige zweistöckige Wohnung, deren oberes Stockwerk sich offensichtlich in der Dachschräge befindet, sodass der Eindruck eines umgekippten Schiffs entsteht. Schon auf den ersten Seiten folgt man dem charmanten Erzählfluss und der anschaulichen Schilderung nur zu gerne, den Gauß ist ein glänzender Stilist und geistreicher Causeur. So paart sich Information mit Leselust pur!


Der Autor versteht es, Grundsätzliches in bezwingend stringente Sätze zu giessen: «Es gibt Dinge, die braucht man nicht und deswegen kommt man ohne sie nicht aus.» So begibt man sich auf die erstaunliche «Fahrt an Ort», für die sich beispielsweise ein unspektakulärer Brieföffner als Kompassnadel anbietet, der schon seit Jahrzehnten griffbereit auf der Kommode im Wohnzimmer liegt. Einst ein Werbegeschenk, entführt er uns anhand seiner Aufschrift an seinen Ursprungsort, wo eine Eternit-Fabrik stand. Für den vielseitig interessierten Autor bietet sich die Gelegenheit, nicht nur die Geschichte der Firma und ihrer Gründer auszubreiten, sondern ein kleines Kapitel Sozialgeschichte aufzuschlagen. Es fallen die Namen Vöcklabruck und Zlín, in beiden Industriestädten versuchten die Fabrikpatriarchen – hier Hatschek, dort die der Schuhfabrikant Bat’a – für ihre Angestellten in eigens für sie entwickelten Siedlungen Arbeit, Leben und Wohnen zu vereinen: privilegiert und zugleich abhängig, eine Art In industrieller Feudalismus.


Tischtücher und Tassen, Bilder und Bücher und ein Hemd

In einer ergötzlichen Pirouette anhand eines Dutzends fadenscheiniger Servietten mit Monogramm HK und einem Tischtuch mit den Initialen IP evoziert Gauß die wechselvolle Geschichte des Südtirols: Beides stammt aus einem Hotel in Meran (seine Frau stammt aus jener Hotelier-Dynastie), dessen Name sich vom deutschen «Hotel Kronprinz» zum italienischen «Il Principe» wandelte. Und pikanterweise ehrte man damit – dem Geist der Zeit entsprechend – erst den kk-Thronfolger Rudolf, später den Prinzen Umberto; heute beherbergt der «adlige» Kasten eine Pizzeria...

Ein andres Mal fabuliert sich der Autor über Alltagsgegenstände wie Teetassen, Duschhauben, Onkel Ottos Aschenbecher aus Murano, das Kochbuch der Grossmutter oder einen Retro-Bleistiftspitzer in Gestalt eines Mini-Globus – auch der Rezensent besass als Kind einen solchen – durch die Kultur- und Geistesgeschichte Europas. Auch Bilder aus in sogenannter Petersburger Hängung versammelten Gemälden und Zeichnungen sowie deren Maler haben eine Geschichte. Und erst recht erzählen Bücher und deren Autoren amüsante, komische, ungeahnte Geschichten.


Auch der voluminöse Schreibtisch aus dem späten 19. Jahrhundert hat natürlich seine Geschichte. Nur schon wie man ihn die vielen Stufen hochgeschleppt und unter dem Türstock hindurch gezirkelt hat, ist eine schweisstreibende Humoreske für sich. Vor allem aber ist sein an Fächern und Laden reiches Innenleben, welche Entwürfe, Gedankenskizzen, Halbfertiges und Geplantes beherbergen, mehrere Erkundigungen wert.


Geradezu anrührend – und ähnlich wahrscheinlich allen Lesern bekannt – ist die Geschichte eines skandinavischen Flanell-Hemdes, das anfänglich von den anderen modischen Hemdenkollegen im Schrank scheel beobachtet wird, das später vom Edelstatus zum Alltagskleidungsstück wurde und schliesslich, nach vielen, vielen Jahren als geschmeidiger Lappen fürs Eincremen von Schuhen endete.

Gauß’ essayistische Wanderung durch das Naheliegende, die uns weit fort durch Geschichte und Räume trägt, ist ein Buch, das man immer wieder mit Genuss und Gewinn zur Hand nimmt. Mir, der mir das Wertvollste, was ich besass, genommen wurde, hat die Lektüre ein paar ungemein anregende und bereichernde Stunden bereitet und, ja, auch tröstliche, weil sie aufzeigen, wie wertvoll Erinnerungen, wie trostreich der Blick zurück für Kopf und Herz zu sein vermögen.






Paul-Zolnay-Verlag, Wien 2019




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