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Per Leichenwagen ins Leben


Un drôle de couple, würde man auf Französisch sagen. Ein eigenartiges Paar. Tatsächlich, die beiden Protagonisten des Films mit dem ziemlich vagen und knappen Titel «presque», einer franko-schweizerischen Koproduktion, bilden – anfänglich wider Willen – ein seltsames Gespann. Könnten unterschiedlicher nicht sein. Da ist einerseits Louis: Vielbeschäftigt, wohlorganisiert, gnadenlos effizient, permanent auf Trab, hauptsächlich im dunkeln Anzug – denn er ist Inhaber und Chef eines Bestattungsinstituts in Lausanne. Ganz anders ist Igor: Er hat viel Zeit, liefert mit seinem dreirädrigen Velo Bio-Gemüse aus, beschäftigt sich mit Philosophie von Plato über Spinoza und Montaigne bis Nietzsche, trägt Sneakers, Jeans und einen Schlabber-Hoodie. Und er lebt seit seiner Geburt in einem durch eine cerebrale Lähmung beeinträchtigten Körper, bewegt sich spastisch, artikuliert mühsam. Aber er ist ungemein gewinnend, authentisch und, ja, lebensfroh.

Zwei ganz unterschiedliche Typen also, würde man auf den ersten Blick meinen. Zwei Typen, die nichts miteinander zu tun haben. Bis ein unglücklicher Zwischenfall die beiden zusammenführt. Eines Tages wird Igor auf seiner Liefertour von Louis’ Automobil gestreift, sodass er mitsamt seiner Fuhre kopfüber am Strassenbord landet. Zum Glück verläuft der Unfall glimpflich, aber er bildet den Auftakt einer Begegnung, die zu einer berührenden Freundschaft zwischen zwei Männern führt, die beide ein Defizit mit sich tragen. Körperlich erkennbar der eine, weniger offensichtlich der andere, nämlich beziehungsgestört. Darin ähnelt der Film dem Streifen «Intouchables» (Ziemlich beste Freunde) von Nakache/Toledano, wo ein Ex-Häftling einem Paraplegiker den Lebensmut zurückbringt. Dort bildete eine wahre Begebenheit den Hintergrund, in «presque» gibt es ebenfalls reale Ansätze: So sind die beiden Protagonisten Louis und Igor auch im wahren Leben Freunde, der französische Schauspieler Bernard Campan und der tatsächlich cerebral behinderte Walliser Buchautor und Philosoph Alexandre Jollien.


Hier fände sich auch eine Erklärung zum etwas seltsamen Filmtitel: Realität, aber eben nur beinahe. «On est parti de ce qu'on est pour faire une fiction.» – Sie seien von dem ausgegangen, was sie sind, um eine Fiktion zu machen, sagt Campan in einem Interview.


Weiter spielt der Titel auf die Tatsache an, dass Menschen generell die Tendenz haben, sich von Vorurteilen, Normen und dem Denken in Kategorien leiten zu lassen. Man benennt etwas, man glaubt, es zu verstehen und zu kennen, man urteilt nach dem äusseren Schein, obwohl es sich dabei meist nur um die halbe Wahrheit oder bestenfalls einen Aspekt derselben handelt – also eben meistens nur «fast». Und schliesslich, so eine der Maximen Igors, bedeutet «presque», dass man es sehr wohl geniessen kann, nicht «ganz» zu sein – nicht «komplett», nicht «gewöhnlich», nicht «perfekt». Sondern sich mit der Unzulänglichkeit arrangiert und das Beste daraus macht. Wenn einer weiss, wovon er spricht, dann gewiss Alexandre alias Igor.

Drehbuch, Regie, Schauspiel

Campan und Jollien haben zusammen mit Unterstützung der Mitautorin Hélène Grémillon das Drehbuch verfasst, sie führten gemeinsam Regie und standen als Akteure vor der Kamera – Campan als Bestatter und Jollien, offenbar zum ersten Mal, als Igor, und das gleich absolut brillant.


Louis bringt also den angefahrenen Igor ins Spital, wo dieser aber bald schon wieder entlassen wird und kurz darauf mit einer Ananas als Dank bei Louis aufkreuzt. In seiner unwiderstehlich-aufdringlichen Art freut er sich spitzbübisch darüber, dass er «als Lebender einem Leichenbestatter» begegnet ist. Mit geradezu kindlicher Indiskretion erkundigt er sich nach den Tätigkeiten und Usanzen im Bestattungswesen und kommentiert diese unverfroren: Bronzene oder gar goldene Griffe am Sarg, das sei doch hinausgeworfenes Geld!


Gegenüber den Kontaktversuchen Igors benimmt sich Louis betont abweisend, zumal er beruflich sehr eingespannt ist. Gerade jetzt steht die Überführung des Leichnams einer verstorbenen Dame ins südfranzösische Sète an. Zusammen mit den sterblichen Überresten dieser Mme Madeleine soll gemäss ihrem Wunsch auch die Urne ihres früher verstorbenen Sohns beigesetzt werden. Aufgrund eines personellen Engpasses und – wie wir später erfahren werden – persönlichem Engagement entschliesst sich der Firmenchef, den Transport selbst zu übernehmen.

Kaum unterwegs, muss er zu seiner ärgerlichen Überraschung feststellen, dass der gewitzte Igor sich als blinder Passagier neben dem Sarg in den Laderaum des Leichenwagens geschmuggelt hat. Er habe eine metaphysische Erfahrung machen wollen, stammelt er treuherzig. Die halbherzigen Versuche, sich des unerwünschten Reisebegleiters zu entledigen, indem Louis ihn im nächsten Zug nach Hause schicken will, scheitern allesamt – schliesslich möchte man einem Handicapierten gegenüber nicht allzu brüsk auftreten. Kurz, die Dienstfahrt nimmt zunehmend den Charakter einer gemeinsamen Schicksalsfahrt an, eines Roadtrips der besonderen Art über Freundschaft, Beziehung und Selbstfindung. Auch über Leben und Tod.


Wie es sich für eine derartige Reise gehört, die die beiden ungleichen Männer immer stärker zusammenschweisst, ist die Route mit allerlei witzigen, mal absurden, mal arg forcierten Abenteuern gesäumt. So wird einmal eine junge Tramperin mitgenommen, welche zum Polterabend einer Freundin nach Montpellier reist und die beiden gleich zum Anlass mitschleppt. Auch das Check-in im Hotel ist amüsant, da Igor in seiner hartnäckigen Zielstrebigkeit auf zwei nebeneinanderliegende Zimmer besteht. Und damit indirekt Louis’ Schäferstündchen mit einem Callgirl sabotiert und dann, quasi als Nutzniesser, unerwartet an Louis’ Stelle in den Genuss einer Liebesnacht kommt. Echt köstlich auch, wie Igor mit einer theatralischen Einlage die Polizisten besänftigt, die sie wegen zu schnellem Fahren angehalten haben.


Schliesslich ist das Reiseziel erreicht, man trifft sich in der Abdankungshalle. Und wir erfahren jetzt: Die Tochter der Verstorbenen ist Louis’ Ex-Gattin. Die beiden stehen sich etwas verlegen gegenüber, überwinden sich, und streuen schliesslich gemeinsam die Aschen von Mutter und (Stief-?)Bruder ins Meer.

Zugegeben: Die Verkettung der verschiedenen Episoden und Beziehungen wirkt manchmal ziemlich konstruiert. Auch gewinnen einzelne Szenen – beispielsweise die ad-hoc-Liebesszene oder der Polterabend – zu sehr an Gewicht und Raum. Doch sie schmälern die grundsätzliche Qualität dieser «comédie dramatique», die mit beachtlicher Beiläufigkeit immer wieder an existentielle Fragen und an Tabus rührt, nur unwesentlich. Igor, der mit den grossen Denkern verschiedener Epochen – «mes amis en papier» – bestens vertraut ist (wie Alexandre im wahren Leben), hat stets eine griffige Sentenz, eine philosophische Lebensweisheit bereit, um sich über das Unvermeidliche, Ungute hinwegzusetzen.


Irgendwie musste ich dabei ab und zu an Saint-Exupérys «Kleinen Prinzen» denken; auch einer, der ausserhalb des «Normalen» steht und gerade dadurch einen unverstellten, naiv-scharfsinnigen Blick auf seine Umwelt hat. Und so sein Gegenüber immer wieder überrascht, irritiert und anregt, den eigenen Standpunkt zu relativieren. (Sogar der Fuchs aus St-Ex’ Fabel ist da – wahrscheinlich zufällig und mit ganz anderer Bedeutung: Igor hat nämlich eine paranoide Angst, sich mit Fuchskot anzustecken, als er beim Unfall aufs Stassenbankett katapultiert wird. Und doch, gegen Ende des Films, als tatsächlich ein Fuchs am Strassenrand auftaucht, kann er herzhaft und befreit darüber lachen – über den Fuchs, über sich, über seine Angst?) Mögen die wohlfeilen Philosophiehäppchen mitunter etwas gar demonstrativ und oberflächlich daherkommen, Igor verleiht ihnen weitgehend Authentizität und Wahrhaftigkeit. Und berührend, wie er bei der Trauerfeier für Madeleine am Schluss das Wort ergreift und über den Bindestrich zwischen den Jahreszahlen auf den Grabsteinen philosophiert: Ein simpler Strich, der die Komplexität eines ganzen Lebens umfasst.


Das alles könnte bedeutungsschwer und sentimental wirken. Der Film – nicht zuletzt dank dem umwerfenden Charisma von Alexandre Jollien – umschifft diese Klippe mit Witz und Leichtigkeit, fast – fast! – möchte man sagen: mit französischem Esprit. Folgerichtig setzen sich denn die beiden Protagonisten wie zwei Buben frech von der Zeremonie ab, schälen sich auf dem Schiffssteg aus ihren schwarzen Klamotten und stürzen sich ins Wasser, à poil, lustvoll, befreit... Man ist nicht als Mensch geboren, man wird erst dazu*, so der Untertitel des trotz kleiner Einschränkungen sehenswerten Films.

(*Erasmus von Rotterdam: Menschen werden nicht als Menschen geboren, sondern zu solchen erzogen)

Bilder: @ Pan Européenne | Paul Chalanset



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