Ein Albtraum: Da liegt eine tote Frau in einer Blutlache. Ein Mann sitzt am Klavier, schlägt ein paar Tasten an und versucht, sich zu erinnern, was da passiert ist. – So beginnt die zweiaktige Oper «Leben mit einem Idioten» des wolgadeutschen Komponisten Alfred Schnittke in der jüngsten Produktion des Zürcher Opernhauses.
Und albtraumartig geht es weiter in dieser dystopischen Handlung, die sich, laut Programmbuch, «in nicht allzu ferner Zukunft» ereignet. Plötzlich gerät die geordnete Welt eines gutbürgerlichen Ehepaars aus den Fugen. Aufgrund eines nicht näher definierten Vergehens – von mangelnder Empathie ist die Rede – wird der Ehemann, ein namenloser Schriftsteller, «Ich» genannt, verurteilt, einen Idioten bei sich zu Hause aufzunehmen. Eine, wie die sich zuprostenden Partygäste jubeln, recht glimpfliche Strafe. Doch prophetisch intoniert der Chor: «Das Leben mit einem Idioten ist voller Überraschungen!» Wie recht er hat!
Dass dazu, wenn auch subtil verzerrt, der Eingangschor aus Bachs «Matthäus-Passion» anklingt, zeigt nicht nur Schnittkes Kompositionstechnik, die er selbst als Polystilistik bezeichnete. Es verweist im sarkastisch-bitterbösen Umkehrschluss des Erlösungsgedankens auch auf die unkontrollierte, zerstörerische Macht des Irrationalen, des Triebhaften, des Unbewussten. Im Verlauf des Stücks werden wir solch flüchtigen musikalischen Referenzen und fragmentarischen Allusionen wiederholt begegnen: Da ertönen Bruchstücke der «Internationalen», andernorts glaubt man ein paar Takte Beethoven und Schostakowitsch zu vernehmen. Ebenso erklingt russische Folklore – «volkstümlich nach Form und Inhalt», wie es die Nomenklatura der UdSSR vorgab – etwa mit dem Lied von der Birke, aber auch der Refrain aus dem unheimlichen Wiegenlied «Tili Bom», wo ein Nachtmahr die Kinder holt, die nicht gehorchen. Zu hören sind ferner diverse Selbstzitate, darunter der berühmte Tango aus «Agonie», einem Film aus den 1970ern über die Figur Rasputins. Und am Schluss hat man für die aktuelle Zürcher Version eine weitere von Schnittkes zahlreichen Filmmusiken eingefügt: den düsteren Summchor, ebenfalls aus «Agonie».
Gestört und zerstört
Zurück zur Bühne: «Ich» begibt sich also ins Irrenhaus, um dort unter den vielen Idioten einen geeigneten Hausgenossen auszuwählen. Einen «weisen, seligen Narren», in der Art des Gottesnarren (Jurodiwy), wie sie in der russischen Kultur- und Geistesgeschichte eine lange Tradition haben – u. a. in Puschkins/Mussorgskis «Boris Godunow» oder Dostojewskis «Idiot».
Anfänglich verhält sich der neue Mitbewohner tatsächlich ganz manierlich, aber trotz seiner «vorgewölbten Stirne, die den geistvollen Polemiker verrät», hapert’s mit seiner Sprache; außer «Äch» ist von ihm nichts zu vernehmen. Doch bald frisst er den Kühlschrank leer. Kotet auf den Teppich. Schmiert sich mit Ausscheidungen und Nahrungsmitteln voll. Vergreift sich an den Kleidern des Paars. Zerfetzt die Bibliothek, die über alles geliebten Werke Prousts eingeschlossen. Die Ehefrau lässt sich von ihm schwängern, obwohl sie ihn anfänglich abgelehnt hatte. Doch als sie das Kind, das sie von ihm erwartet, abtreibt, reagiert er mit Wut und Gewalt und schneidet ihr mit einer Gartenschere (aus der DDR!) den Kopf ab. Schließlich wird auch «Ich», der Schriftsteller, Objekt der sexuellen Begierde des Idioten und scheint in der homosexuellen Beziehung sein Glück gefunden zu haben. Denn: Als der Idiot verschwindet, bleibt er völlig zerbrochen einsam zurück und beginnt mit «näselndem Falsett das Lied von der Birke zu intonieren – «Äch!» Das Ende: Ermittler, Kameras, rot-weiße Absperrbänder und ein in sich zusammengesunkener Mann, der sich willenlos verhaften lässt – ein weiterer Idiot für die Anstalt…
Dieses Horror-Szenario wird jedoch nicht linear erzählt, sondern, analog zur zwischen den Stilen oszillierenden Partitur, mit Zeitsprüngen, Wiederholungen und Rückblenden. Oft äußern sich die beiden Protagonisten, der «Ich»-Mann und sogar die (mehrmals) ermordete Frau, im Erzählmodus. Und oft durchbrechen sie mit ihren Schilderungen und Gefühlen die vierte Wand, indem sie sich ans Publikum wenden und loopartig das Erzählte berichten und nachspielen, was mitunter an psychiatrische Sitzungen denken lässt, wo traumatische Erlebnisse wieder und wieder repetiert und durchlebt werden.
Sukkurs erhalten die beiden vom vielköpfigen Chor, der vor der Bühnenrückwand auf einer dreistufigen Tribüne sitzt, Männer und Frauen in weißen Kleidern. Zusammen mit dem weißen Rechteck des für alle Szenen einheitlichen Bühnenraums, zusammen mit der Lichtschiene am Bühnenportal (was die Übertitelung mitunter schwer lesbar macht) und den technischen Deckenleuchten unterstreichen sie den aseptischen Eindruck eines Versuchslabors, das ansatzweise durch Tisch mit Stühlen, Megabildschirm, Sofa, Ehebett, Kühlschrank, Waschmaschine und Dusche zum Interieur oder (statt der originalen Irrenanstalt) zur hypen Kunstgalerie umgedeutet wird.
Für Bühnenbild, Kostüme und Regie zeichnet Kirill Serebrennikov verantwortlich. Er hatte schon im Vorfeld deklariert, dass er sich nicht mit dem Werk als Politsatire beschäftigen wolle. So hat man für die aktuelle Produktion nicht nur die deutsche Übertragung gewählt, man hat auch alles Russische, besser: Sowjetische aus dem Text eliminiert oder umformuliert – könnte man den gekippten Trichter auf dem aktuellen Programmheft somit als «Leerung» alles Doktrinären deuten, die der russischen Bevölkerung während Generationen eingetrichtert wurde?
Alfred Schnittke (1934–1998) Viktor Jerofejew (*1947) – © Bild: A. Savin
Doch als Viktor Jerofejew 1980 seine absurde Kurzgeschichte verfasste, die später den Stoff zur Oper liefern sollte, waren die ätzend höhnischen Bezüge zur damaligen Sowjetunion noch unübersehbar. Der Idiot wird geschildert als rothaarig, mit breiter Stirn, Spitzbärtchen und einer Vorliebe für volkstümliche Gesänge. Vor allem heißt er Wowa, die Kurzform für Wladimir – die Parallelen zu Wladimir Iljitsch Lenin waren eklatant, was dem Autor und Mitherausgeber des subversiven Literaturalmanachs «Metropol» prompt den Ausschluss aus dem Schriftstellerverband eintrug. Und seinem Vater den Entzug seines Postens als Botschafter in Wien. Erst mit dem Beginn der Perestroika in den 90er-Jahren las Jerofejew die Erzählung öffentlich; unter den Zuhörern war auch Alfred Schnittke, der ihm spontan vorschlug, den Text als Oper zu vertonen. 1992, Schnittke war schon stark von Krankheit gezeichnet, erlebte das Werk seine erfolgreiche Uraufführung in Amsterdam, nach dem Zusammenbruch sozusagen eine sarkastische Bilanz der sowjetischen Ära und gewiss auch eine Art Abrechnung mit dem brutalen Unterdrückungsapparat, der bis in die privateste Intimität reichte.
Serebrennikov und sein Team haben, wie gesagt, diese Bezüge getilgt ebenso wie die historische und geografische Verortung – am offensichtlichsten: Wowa wird jetzt unverfänglich «Schätzchen» genannt. Keine «Entschlüsselung des sowjetischen Bullshits», ließ der Regisseur in Interviews wissen. Damit entfällt auch jegliche Anspielung auf den aktuellen Wowa im Kreml: Der verdiene keine Oper, sagt Serebrennikov.
Textautor Jerofejew, der sein Land immer wieder scharfzüngig kritisiert und seit der Annexion der Krim in Deutschland lebt, war an der Premiere anwesend. Auch er scheint mit der Umdeutung seiner einstigen Politsatire einverstanden. Für ihn ist der Stoff aus heutiger Sicht eine «sehr existentielle Geschichte mit politischen Elementen», Änderungen seien also durchaus legitim und Parallelen zu Putin verfehlt. Das erstaunt einigermaßen; dazu am Ende dieses Textes ein paar persönliche Gedanken.
Blick in die menschlichen Abgründe
So gilt Serebrennikovs Interesse primär dem Umgang und der Darstellung innerer und äußerer Obsessionen, die das (eheliche) Zusammenleben und das des Individuums vergiften. Mit einer Bildhaftigkeit, die im Vergleich zum mitunter doch sehr eindeutigen Text eine erstaunliche Dezenz wahrt, lenkt er den Fokus auf die (tiefen-)psychologischen Abgründe statt auf politische Einflüsse von außen. Das ist exzessiv, drastisch, provokant, mitunter überraschend schwarzhumorig und – schlicht überzeugend. Und dies verdankt sich zum grossen Teil der schonungslosen Intensität, mit der die Protagonisten ihre Rollen ausfüllen.
Susanne Elmark liefert eine facettenreiche Darstellung der Ehefrau. Sie meistert die hysterischen Spitzentöne mit der gleichen Souveränität wie die leiseren Passagen oder die verzweifelten Ausbrüche. Der Bariton Bo Skovhus in der Rolle des «Ich» zeichnet einen verquälten, überforderten Mann. Er weiß seine Stimme mit eindrücklicher Sicherheit durch die Klippen dieser anspruchsvollen Rolle zu führen, scheinbar mühelos wechselt er zwischen rezitativischer Deklamation, profunder Fülle und überreiztem Falsett. Wie er wohl selbst von seiner homosexuellen Neigung überrascht und verunsichert wird, ist eine schauspielerische Glanzleistung: ein Mensch, ausgeliefert seinen inneren Dämonen im ureigensten Sinne. Das eigene Spiegelbild erschreckt ihn.
Hier manifestiert sich Serebrennikovs Interpretationsansatz. Der Idiot erscheint nicht als externe Macht, als zerstörerischer Dritter von außen, sondern als Chiffre für die inneren, schwer fasslichen Kräfte, die sich der Rationalität entziehen und Menschen zu unkontrollierbarem Tun bewegen können, zu genialem, künstlerischem Schaffen, aber auch zu grässlichen, sogar tödlichen Handlungen. Folgerichtig erscheint der «dämonische Idiot» in zwiefacher Ausprägung ein und derselben Energie.
Da ist einerseits Matthew Newlin, äußerlich ein Alter Ego des Regisseurs selbst: ein Finsterling mit Strickmütze, schwarzer Kleidung, Halskette. Obwohl oder gerade, weil sein Vokabular sich auf das besagte «Äch» beschränkt, ist diese Partie gesanglich sehr anspruchsvoll, umspannen diese Vokalisen, Melismen und Rufe doch über drei Oktaven, die der Tenor mit Bravour meistert und die Handlung mit lautmalerischer Eloquenz aufheizt.
Campbell Caspary – Monster und Lichtgestalt
Und da ist andererseits der Performer Campbell Caspary, der als blonder Puer aeternus, von theatralischem Nebel umwallt, einem gläsernen Würfel mit leuchtenden Kanten entsteigt. Hat er sich erst mal von seiner grauslichen Hannibal-Lecter-Maske befreit, so verleiht er mit seinem durchtrainierten, nackten Körper den Ängsten, Begierden und Affekten körperhaften Ausdruck – akrobatisch, tänzerisch, mimisch. Und nimmt auch schon mal klassische Posen ein: als Diskuswerfer, als David und Adam von Michelangelo, zusammen mit seinem schwarzen Pendant gar als Pietà-Darstellung – quasi das optische Gegenstück zum musikalischen Eklektizismus der Partitur. Das alles ist effektvoll und ziemlich numinos; was ja auch seine Tattoos auf Brust und Steiß unterstreichen: «Rette und bewahre» in Kyrillisch, «Gott mit uns» in Deutsch. Und man fragt sich, wie ironisch das gemeint ist, zumal der Licht-Jüngling sich am Ende selbst einen futuristischen Strahlenhelm aufsetzt und oben auf dem Podest, von einer pathetischen Lichtgloriole umflutet, Platz nimmt, bevor er sich diskret aus dem Staube macht...
Neben diesen vier Protagonisten und den kleinen Rollen – Magnus Piontek als Irrenhauswärter und Birger Radde als herumgeisterndes Marcel-Proust-Phantom mit Chapeau-claque – übernimmt der Chor mit seiner hochkomplexen Partie eine zentrale Rolle. In seiner dauernden Präsenz gleicht er einem antiken Chorós, der das Geschehen kommentiert, bestätigt, hinterfragt und auch die diversen Aufgaben als Freunde oder Internierte brillant bewältigt. Gleiches gilt von der Philharmonia Zürich, die unter
Jonathan Stockhammer, einem Spezialisten für Neue Musik, Großartiges leistet und der mehrschichtigen Partitur die unterschiedlichsten Stimmungen und Farben entlockt, nicht zuletzt durch die Platzierung einzelner Bläser in den Parkettlogen links und rechts.
Auch wenn im zweiten Teil der Fluss des knapp zweistündigen Abends stellenweise etwas ins Stolpern gerät, bleiben viele der fantastischen und fantasievollen Einfälle des Regisseurs haften. Als besonders zauberhafte Idee jene Szene, die «Ich» als Kind zeigt. Im elterlichen Salon, durch dessen hohe Fenster man ins nächtliche Schneegestöber blickt, spielt der 12jährige Mykola Pososhko, der mit seiner Mutter aus der Ukraine geflüchtet ist, den berühmten Tango, unterstützt von den speziellen Klängen der Celesta: Sensibel und hochmusikalisch – ein lichter Moment, der wie ein Hoffnungsschimmer im grotesk-grauenhaften Geschehen in der Oper – und in der Welt! – aufleuchtet...
Nachlese:
Opern brachten seit jeher reale historische Personen und Ereignisse auf die Bühne, und wache Zuhörer dürften schon immer parodistische wie ernsthafte (und mitunter nicht einmal explizit intendierte) Bezüge zu ihrer jeweiligen Gegenwart erspürt haben. Ein oft zitiertes Beispiel unter vielen ist Aubers «La muette de Portici», welche 1830 in Brüssel zum Aufstand gegen die niederländische Herrschaft und schließlich zur Unabhängigkeit Belgiens führte. Direkte Persiflage und damit Kritik an den gesellschaftlichen und politischen Zuständen im Second Empire übten natürlich viele von Offenbachs pfiffigen Operetten. Im 20. Jahrhundert schuf beispielsweise der Komponist John Adams Opern wie «Nixon in China» (1987) über die heroisch überhöhte Reise des Präsidenten oder «The Dead of Klinghoffer» (1991), welche die Entführung der «Achille Lauro» durch die PLO und die Ermordung eines gelähmten Passagiers im Rollstuhl zum Thema hat. Oder, um nur noch ein Beispiel jüngeren Datums zu nennen: «Die Passagierin» (2006/10) von Mieczysław Weinberg über Schuld, Erinnerung und das Trauma des Holocaust und den Umgang der Überlebenden damit.
Neben diesen explizit «politischen» Stücken erleben wir dauernd, wie Opern von Händel bis Wagner, die existenzielle, menschliche Grundfragen behandeln, mit Videosequenzen, Kampfmonturen, Flaggen und Symbolen in einen politischen Kontext gezwungen werden, frei nach dem Motto: Alles ist politisch, auch das Persönliche. – Nun liegt mit Schnittkes Oper tatsächlich ein flagrantes Beispiel eines Musiktheaters vor, das sich konkret mit der absoluten Willkür jenes autoritären Regimes befasst, für das die Realität aktuell ein einschlägiges Beispiel liefert. Doch just auf diesen – vielleicht zu naheliegenden? – Aspekt verzichtet der Regisseur, der dessen Repressionen selbst erfahren musste (man erinnert sich seiner Zürcher Inszenierung von «Così fan tutte» aus dem Hausarrest). Er hat seine Entscheidung zwar in Interviews und im Programmheft hinlänglich erklärt. Dennoch: Ist der Entscheid plausibel? Ist es Vorsicht? Vorauseilende (Selbst-)Zensur? Darüber sind die Meinungen geteilt, was vorgängig auch in der Presse entsprechend diskutiert wurde. Auch für uns bleiben Fragen – es darf weiter gedacht werden. Und das ist gut so! (Zurück zum Haupttext)
Szenenbilder: @ OHZ – Monika Rittershaus und Frol Podlesnyi
05.11.2024
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Ich habe auf deinen kommentierten „Bericht“zur neusten Produktion des Operhauses gewartet. die Premiere zu Schnittkes Oper erwartet mich am demnächst.
Deine Berichte, Deine Kritiken, Deine Kommentare sind für mich grossartig. Sie lassen sich geniessen wie einen tiefgründigen, facettenreichen, schweren und dennoch äusserst bekömmlichen Rotwein. Er verleitet nicht zum Saufen. Er will schluckweise hinterfragt und genossen werden. Es ist sein tiefgründiger Abgang, der bleibt. Ich bewundere nicht nur deine Fachkompetenz, sondern auch, wie du es verstehst, dieses Wissen in für den Unwissenden verständliche, beschreibende und erklärende Worte und Sätze zu verpacken!
Grossartig - eben: rauchs zeichen
P. Z.