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Le roi se meurt


Erste Einstellung: Emmanuèle (Sophie Marceau), eine Frau mittleren Alters, sitzt am Computer. Das Handy schrillt – «Oui, allô...» – Eine alltägliche Situation. Und doch ändert sich alles. Schlagartig. Der Anruf kommt von Pascale (Géraldine Pailhas), Emmanuèles Schwester. Sie berichtet, dass ihrer beider Vater, der 85-jährige André (André Dussollier), einen Schlaganfall erlitten habe und bereits im Spital auf der IPS liege.


Emmanuèle packt hektisch ihre Tasche, muss nochmals zurückrasen, um die Linsen zu applizieren, natürlich ist zu alledem auch noch der Fahrstuhl besetzt... Atem- und fassungslos tritt sie mit Pascale ans Bett des Vaters, dessen Leben, so der ärztliche Befund, sich als halbseitig Gelähmter künftig zwischen Bettstatt und Rollstuhl abspielen wird. Dieser Vater, ein erfolgsgewohnter Industrieller, der das Leben sozusagen mit beiden Händen packte und genoss – Kunst, Kulinarik und, wie wir später erfahren, auch sein homosexuelles Doppelleben. Ein Hedonist, wie er im Buche steht: launisch, charmant und selbstbestimmt und gleichzeitig generös – mit sich und seinen Ansprüchen. Einer, der es gewohnt war, seinen Willen durchzusetzen. Wie eben jetzt seine präzis formulierte, wenn auch ob des Hirnschlags weniger deutlich artikulierte Forderung, ihn sterben zu lassen. Die Töchter sind überfordert, obwohl sie sich gegenseitig versichern: «Er erholt sich immer!»


Doch diesmal ist dies nicht der Fall. Kürzere Momente der Stabilität oder einer leichten Verbesserung zögern zwar den fortschreitenden Verfall hinaus, aber verhindern können sie ihn nicht. Vor allem mindern sie den Sterbewunsch des Alten keineswegs. Die Schwestern durchleben eine Achterbahn an Gefühlen. Vergangenes kommt hoch, Vergessenes wird plötzlich wieder aktuell. Langsam, mosaikartig setzt sich das Bild einer gutbürgerlichen, aber dysfunktionalen Familie zusammen: Die Ehe Andrés mit Claude (Charlotte Rampling) scheint der Konvention geschuldet. Sie, die Mutter der beiden Töchter, ist eine renommierte Beton-Bildhauerin, jetzt eine verhärmte Frau, von Parkinson gezeichnet und schwer depressiv, die nur noch ihrer Kunst lebt und sich emotional von ihrer Familie entfremdet hat. Er, Egomane und Bonvivant, hat sein eigenes Leben gelebt und offenbar eine Beziehung zu Gérard, dem «Scheisskerl», «grand’ merde» (Grégory Gadebois), wie ihn die Schwestern nennen, gepflegt. Auch das Verhältnis zu den Töchtern war ambivalent; der Vater scheint Emmanuèle, die Jüngere, vorgezogen und die beiden mitunter gegeneinander ausgespielt zu haben.

Sterben aus Liebe zum Leben

In der Folge werden wir Zeugen eines schwierigen, ernsthaften Prozesses, der mitunter jedoch auch komische, absurde Momente beinhaltet. Natürlich versucht man, den alten Herrn umzustimmen; erfolglos, wie zu erwarten war. Also macht sich Emmanuèle über mögliche Schritte kundig. Eine Spezialübung für sich ist nur schon das Finden eines Termins in der Agenda, der für alle passt, der aber dann wieder verschoben werden muss, weil der Todeskandidat noch zu gerne die Vortragsübung des musizierenden Enkels erleben würde. Auch ein opulentes letztes Diner in Andrés Lieblingsrestaurant (und mit seinem hübschen Lieblingskellner!) soll noch eingeplant werden. Ernsthaftere Probleme erwachsen allerdings dem Umstand, dass in Frankreich der assistierte Suizid streng verboten ist. Ein befreundeter Anwalt und die Behörden liefern sich noch ein kleines Gefecht, folglich muss man ins diesbezüglich liberalere Nachbarland Schweiz ausweichen. Was André angesichts der hohen Kosten dieser letzten Reise zur nicht wirklich besorgten Frage veranlasst, wie es denn die weniger Betuchten in dieser Situation machen würden. Die ebenso lapidare wie sarkastische Antwort von Tochter Emmanuèle lautet: «Die müssen halt warten, bis sie sterben...».

Schliesslich klappt es doch. Nach einigem Hin und Her beschliessen die Töchter, den Vater allein per Krankentransport in die Schweiz reisen zu lassen – ein kleines bitteres Aperçu, das besagt, dass man «den letzten Schritt alleine gehen muss», wie es in einem Gedicht von Hermann Hesse heisst. Doch zuvor noch eine letzte Pirouette: Der muslimische Fahrer weigert sich, den alten Herrn ins Sterbehospiz zu chauffieren, da dies seinem religiösen Ethos widerspricht; der weniger skrupulöse Kollege übernimmt – kurz: die letzte Reise erfüllt sich wie geplant. Die Töchter in Paris erhalten einen Anruf aus Bern, der ihnen mitteilt: «Tout s’est bien passé», was dem Film auch den Titel gab – alles ist gutgegangen.


François Ozon greift mit diesem Film in eine aktuelle, brisante Debatte ein. Inspiriert habe ihn offenbar das Buch der Schriftstellerin und Drehbuchautorin Emmanuèle Bernheim, mit der er diverse Male zusammengearbeitet hatte – unter anderem für den Streifen «Swimming Pool». Die Autorin verstarb 2017 im Alter von 62 Jahren an Lungenkrebs. «Tout s’est bien passé» ist somit eine Art Hommage oder letzte Geste des dankbaren Erinnerns an die Kollegin und Freundin. In ihrem mehrfach ausgezeichneten autobiographischen Roman erzählt Bernheim ihre eigene Geschichte, die Geschichte ihres Vaters André Bernheim, der offenbar ein genauso liebenswerter Querkopf gewesen ist, wie ihn der Film zeigt, und der sie nach seinem Schlaganfall aufgefordert hatte, ihm beim Sterben zu helfen, was dann 2009, neun Monate später, auch geschah. Mme Bernheim weiss also sehr genau, wovon sie berichtet.

Ernsthafte Leichtigkeit

Ozons Position in dieser Frage ist klar, aber er deklariert und zementiert sie nicht. Vielmehr lässt er den Zuschauer teilhaben am emotionalen Prozess, den die Umgebung des Suizidwilligen durchlebt: Der Filmemacher tut dies in seiner gewohnt spielerischen, fast möchte man sagen sehr französischen, leichtfüssigen Art und Weise. Er umschifft penible Debatten um die Sterbehilfe. Stattdessen erzählt er eine Geschichte, temporeich, gradlinig, direkt und unpolemisch. Geradezu neutral, fast ein wenig distanziert, und vor allem wohltuend frei von lastendem Pathos, was die unaufgeregte, klassische Kameraführung unterstreicht (Hichame Alaouie).


Vorwerfen könnte man dem Film allenfalls, dass er den Focus ziemlich parteiisch auf Emmanuèle sowie den Vater André legt und dabei die übrigen Familienmitglieder – Ehefrau Claude, ältere Tochter Pascale, Serge, Emmanuèles Ehemann sowie Gérard, der etwas dubiose Kumpel Andrés – etwas unterbelichtet bleiben, obwohl alle ausgezeichnete Darsteller sind. Ganz besonders auch Charlotte Rampling in ihrem prägnanten, kurzen Auftritt als vom Leben beschädigte Ehefrau, Mutter und Künstlerin – «avec son cœur de ciment», wie André einmal mit ätzender Ironie bemerkt. Erwähnenswert ist schliesslich Hanna Schygulla als Dame der Sterbeorganisation: ein ruhender, sanfter Pol mit liebenswürdigem deutschem Akzent im emotionalen Aufruhr.

Die Besetzung der beiden Protagonisten Tochter und Vater mit Sophie Marceau und dem über 75-jährigen André Dussollier ist hochkarätig. Die beiden sind von einer unsentimentalen Intensität, die fasziniert, aber dennoch emotional berührt. Zur brillanten schauspielerischen Leistung von Dussollier kommt eine höchst raffinierte Gesichtsprothese, die sein Antlitz schmerzlich verrutschen lässt und sein Mienenspiel lahmlegt. Doch wie der Gezeichnete es dennoch immer wieder fertigbringt, seinen Schalk, seine Bissigkeit und seinen Starrsinn aufblitzen zu lassen, ist von schonungsloser, packender Direktheit. So schafft es der Film, dass man den Saal nicht total erledigt und tränenblind verlässt, sondern durchaus Willens ist, sich mit der Frage des selbstbestimmten Todes zu befassen. Aus gesellschaftlicher und – nicht immer identischer! – persönlicher Sicht. Doch auf jeden Fall inständig hoffend, dass man nie in die Situation geraten möge, da man selbst um entsprechende Beihilfe angegangen wird oder diese Aufgaben jemand Nahestehendem wird zumuten müssen...

© Bilder: Filmstills



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