Fliegende Teppiche, die kennen wir. Dass Teppiche auch tanzen können, konnte man in Edward Clugs Ballettfassung von Henrik Ibsens epischem Gedicht «Peer Gynt» erleben, das – ursprünglich als reines Lesedrama gedacht – vom Dichter selbst zum fünfaktigen Bühnenstück mit Musik umgeformt wurde. 1874 bat er seinen Landsmann Edvard Grieg, den er ein knappes Jahrzehnt zuvor in Rom kennengelernt hatte, um Mitwirkung am gigantischen Projekt. Dieser sagte zu und lieferte, obwohl er sich offenbar mit der Titelfigur schwertat, 26 Bühnenmusiken für Soli, Chöre und grosses Orchester; die Uraufführung 1876 in Christiania, dem heutigen Oslo, soll fünf Stunden gedauert haben! Später stellte der Komponist die Zugstücke daraus zu zwei Orchester-Suiten (op. 46 und 55) zusammen, um die Musik auch ausserhalb der Bühne und Norwegens bekannt zu machen. Die Rechnung ging auf. Offenbar nur zu sehr! Denn zum Leidwesen des Komponisten wurden diese Stücke schon zu seinen Lebzeiten und bis heute als Soundtrack für alle möglichen und unmöglichen Belange missbraucht und umorchestriert.
Zurück zu den erwähnten Teppichen (die allerdings erst im 2. Akt, der Peer nach Marokko und Ägypten führt, zum Einsatz kommen) und damit zu Clugs Choreografie, die er 2015 für das Slowenische Nationalballett in Maribor geschaffen hat. Es gelingt dem rumänischen Choreografen auf eindrückliche Weise, die hemmungslos durch Zeiten und Kulturen mäandrierenden Abenteuer des unerschrockenen Bauernsohns Peer Gynt in vielschichtige Bilder und Aktionen zu fassen. «Vielschichtig» mag gerade in diesem Kontext ein heikler Ausdruck sein: In seinem berühmten Monolog im 5. Akt vergleicht sich der glücklose Ich-Sucher mit einer Zwiebel, die er Schicht für Schicht häutet, um zu deren Kern, zum Kern seiner Existenz, vorzudringen und feststellen zu müssen, da sind «bloss Häute, nur immer kleiner und kleiner» – da ist nichts... Im Programmheft findet sich ein (fast) vollständiger Abdruck dieser Passage in der Übertragung von Christian Morgenstern, dessen Gesamtübersetzung übrigens recht vergnüglich zu lesen ist.
Amüsant und im besten Sinn unterhaltend ist auch Edward Clugs Version, die uns mit auf eine gut zweistündige Reise nimmt, die Surrealismus, Mystik und Poesie, Witz, Satire und Ironie auf lustvolle Weise miteinander verschränkt. Dazu bündelt und reduziert der Choreograf den Fantasy-Trip auf zwei konzise Akte und legt ihnen ausschliesslich Musik von Grieg zu Grunde: Zu Stücken aus der originalen Schauspielmusik, op. 23, fügt er Auszüge aus der Suite «Aus Holbergs Zeit», aus den «Norwegischen Tänzen» und den «Lyrischen Stücken», dem g-Moll-Streichquartett sowie die Sätze 2 und 3 des Klavierkonzerts. Eine äusserst ansprechende Auswahl (auch wenn auf den Wunschkonzert-Hit «Solveigs Lied» verzichtet wurde), die dem Dirigenten Victorien Vanoosten und der Philharmonia Zürich Gelegenheit bietet, einen unterstützenden, aber gleichwohl eigenständigen Part im Ganzen zu übernehmen und mit wachem, flexiblem Vortrag Zauber und Stimmung der einzelnen Stationen zu unterstreichen. Der Klavierpart ist bei Adrian Oetiker in besten Händen, lyrisch einfühlsam, aber auch virtuos zupackend.
Über die Bühne – Marko Japelj hat sie entworfen – zieht sich eine elliptische weisse Bahn. Sie umfasst so eine ovale Spiel- und Tanzfläche und ist als Endlosschlaufe gleichzeitig ein Bild für das Getrieben-Sein des Protagonisten, der sich ständig davonläuft und sich doch nicht entkommen kann. Linkerhand taucht sie unter einer Art grün-gräulichem Blocksberg (!) hindurch. Allerdings ist Peer Gynt wohl weniger als nordischer Faust zu lesen, sondern eher als fantasiebegabter Hallodri eines Schelmenromans. Was andererseits nicht ausschliesst, dass kluge Deuter ihm eine übertriebene Mutterfixierung sowie einen Hang zum Donjuanismus mit mangelnder Bindungsfähigkeit und massloser Selbstüberschätzung zuschreiben... Eine schillernde, saftige Figur ist er auf jeden Fall, dieser Peer Gynt.
Ein Traum-Tänzer für den Traumtänzer
So bedarf es denn für die Darstellung dieses Traumtänzers auch tatsächlich eines Traum-Tänzers. William Moore lässt diesbezüglich keine Wünsch offen. Selbst wenn er rein tänzerisch nicht sein volles Potenzial ausschöpfen kann, zeichnet er den notorischen Aufschneider und Lügner doch mit überzeugender Intensität. So setzt er sich beispielsweise mit kindischer Freude in eine der wippenden Fantasiefiguren, die vor jedem Einkaufszentrum stehen (wohlfeiler Lacher im Publikum!) und lässt sich als kindlicher Tunichtgut von seiner Mutter Åse (Francesca dell’Aria) den Hintern verbläuen. Er gibt den trinkfesten Draufgänger, wenn es gilt, Ingrid (Michelle Willems), seine Jugendliebe, an deren Hochzeitstag zu entführen. Er ist ein selbstverliebter Naivling, wenn er glaubt, die Beduinenprinzessin Anitra (Rafaelle Queiroz) zu betören, dieweil sie ihm sein Vermögen abknöpft – die erotische Szene mutet zwar eher fernöstlich als maghrebinisch an. Als schäbiger Drückberger lässt er die doppelgesichtige Tochter des Trollkönigs (Inna Bilash) sitzen, nachdem er mit ihr ein Kind gezeugt hat. Die Runde der Frauen ergänzt Katja Wünsche hingebungsvoll als junge und als betagte, erblindete Solveig, deren unverbrüchliche Liebe am Schluss ihrer beider Leben zu Ruhe und Frieden bringt. Alle diese Frauenfiguren zeichnen sich aus durch ganz persönlichen tänzerischen Ausdruck und individuelle Körpersprache, wie auch die weiteren Rollen mit profilierten Tänzerinnen und Tänzern besetzt sind.
Akzente ins bunte Geschehen setzen zwei weitere mystische Figuren von starker suggestiver Wirkung: Als ungerufener, aber unvermeidlicher Reisebegleiter fungiert der Tod im schwarzen Gehrock, der den Tausendsassa zwar tadelt, ihn aber immer wieder von der Schippe springen lässt, als wolle er sich die spannenden Exploits seines «Klienten» nicht entgehen lassen: grotesk-komisch gezeichnet von Daniel Mulligan. Eine weitere allegorische Figur aus Clugs reichem Ideenfundus ist der Weisse Hirsch, Symbol von Peers Fabulierlust, der ihn über die Schalheit der Realität hinwegträgt. Sein Pegasus gewissermassen, auf dessen Rücken er über Klüfte und Gräte geritten sei; Cohen Aitchison-Dugas tanzt den Bock mit zwei Krückenstöcken als Vorderbeine unglaublich akrobatisch und kraftvoll. Als Peer in Solveigs Hütte verschwindet, hat er seine Aufgabe erfüllt, legt den Hirschkopf mit dem imposanten Geweih und die Stelzen ab – ein ergreifendes Bild. Es ist ausflunkert...
Beeindruckend sind sodann die vielen hochpräzis gestalteten Ensembles: Folkloristisch geprägte Reihentänze zur Hochzeit, skurril getaktetes Gewimmel im Trollenreich, spassiges Teppichballett und exotischer Verführungstanz in Marokko, slapstickartige Motorik der Insassen eines Irrenhauses zu Kairo – obwohl alles auf dem Repertoire des klassischen Tanzkanons basiert, ergeben sich dank der neuen Kombinationen und Schrittfolgen doch immer wieder faszinierende, überraschende Effekte, wozu auch die fantasievollen Kostüme von Leo Kulaš und die stimmungsvolle Lichtführung von Tomaž Premzl beitragen.
Mögen vielleicht eingefleischte Ballett-Aficionados rein tänzerisch bezüglich Soli und Pas-de-deux nicht ganz auf ihre Rechnung kommen, dennoch: Hier gelangt einer der grossen Stoffe der Weltliteratur schlüssig und packend zur Darstellung: eine ereignisreiche, mitunter dornenvolle Suche nach dem eigenen Ich, das letztlich nur im Du zu finden ist.
Bilder: © OHZ - Gregory Batardon
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