In der Villa Valmarana ai Nani, erbaut von einem Schüler Palladios, gibt es in der Eingangshalle ein wandfüllendes Fresko, das Giovanni Battista Tiepolo um 1757 geschaffen hat. Ich habe den Ort im Veneto unlängst wieder einmal besucht und stelle das einer veritablen Theaterszene nachempfundene Kolossalgemälde dieser Opernberichterstattung voran. Denn es passt perfekt zur aktuellen Produktion derTragédie musicale «Iphigénie en Tauride» der Bühnen Bern, liefert es doch die Vorgeschichte zu Christoph Willibald Glucks Oper, die mit sensationellem Erfolg, dem größten zu seiner Lebzeit, 1779 in Paris uraufgeführt wurde. Der Vollständigkeit halber: Das Libretto in französischer Sprache stammt von Nicolas-François Guillard, der sich seinerseits auf die Tragödie des Euripides beruft. Mit dieser Oper hat Gluck auch die von verbissenen Melomanen angezettelte ästhetische Kontoverse zwischen Anhängern des Italieners Nicolò Piccinni, den Piccinnisten, zugunsten der Gluckisten entschieden, die die französische Reformoper favorisierten.
Tiepolos Fresko zeigt eine mythologische Schlüsselszene im Vorfeld des trojanischen Kriegs: Die griechische Flotte hat sich im Hafen von Aulis gesammelt. Doch eine Flaute hindert die Schiffe am Auslaufen, weil Agamemnon, einer der Heerführer, die Göttin Artemis (Diana) erzürnt hat, indem er eine ihr heilige Hirschkuh erlegt hatte. Nun verkündet das Orakel, er müsse seine erstgeborene Tochter Iphigenie zur Besänftigung der Göttin opfern, auf dass diese die günstigen Winde schicke. Im letzten Moment erbarmt sich die Gottheit: Sie entrückt die Todgeweihte in einer Wolke ins ferneTauris und legt an deren Stelle eine Hindin auf den Opferalter.
Der Maler hält genau diesen theatralischen Moment fest: Ganz rechts verhüllt sich Agamemnon das Antlitz vor Entsetzen und Scham über den eigenen Entscheid, als der Priester Kalchas zum tödlichen Streich ausholt, während von links ein geflügelter Genius das Opfertier herbeiführt. Im Zentrum von Glucks Oper «Iphigénie en Aulide», die fünf Jahre zuvor ebenfalls in Paris zur Aufführung gelangte, stand genau diese makabre «Opferung». Inzwischen sind fünfzehn Jahre vergangen; Iphigenie ist im Land der Taurer, wo unter der Herrschaft des Tyrannen Thoas die barbarische Sitte den Tod aller Fremden fordert. Hier übt sie das Amt der jungfräulichen Oberpriesterin aus, ständig «das Land der Griechen mit der Seele suchend», wie es in Goethes «Iphigenie auf Tauris» heisst, deren erste Prosafassung fast gleichzeitig zur Oper Glucks entstand.
Erinnerung und Heimweh sind zentrale Aspekte der aktuellen Inszenierung von Silvia Paoli. Das zeigt sich gleich zu Beginn: Vater Agamemnon drückt seiner Tochter den Brautschleier aufs Haupt, die er unter dem Vorwand, sie mit Achilles vermählen zu wollen, ins Lager hat kommen lassen. Mutter Klytämnestra, die von der geplanten Opferung erfahren hat, versucht die Tochter zu retten. Klassischer Elternzwist einer dysfunktionalen Familie, aus dem die Kinder als schwer Traumatisierte hervorgehen. Und deren Geschick das Theater immer wieder befruchtet haben: von Händel bis Trojahn, von Hofmannsthal bis O’Neill.
Zur knappen Orchestereinleitung, die die pastorale Ruhe des Anfangs jäh in eine aufgepeitschte Sturmmusik kippen lässt, wird diese Szene im Sinne eines Flashbacks von Statisten stumm dargestellt. Doch unversehens geht der Fokus von der pantomimischen Darstellung über in die reale Situation; an Stelle des halbwüchsigen Mädchens tritt die Sängerin der nunmehr erwachsenen Iphigénie. Immer wieder baut die Regie derartige Erinnerungssplitter ein. Wenn der von den Erinnyen ob des Mordes an der eigenen Mutter Klytämnestra gepeinigte Orest sein Geschick beklagt, kurvt sein kindliches Ebenbild auf dem Tretvelo über die Bühne. Oder wenn Iphigénie, als sie vom Blutbad erfährt, das in ihrer Familie angerichtet wurde, den berührend schlichten Klagesang mit der wunderbaren Oboenkantilene anstimmt, sieht man Agamemnon vorne an der Rampe sitzen und seinen Sprösslingen Iphigenie und Orestes (die beiden weiteren Kinder Elektra und Chrysothemis bleiben ausgespart) als liebender Vater – der er wohl kaum war! – aus einem Buch vorlesen. Auch die Mutter, aufgemacht als schicke Dame, irrlichtert immer mal wieder als Untote durch die Szene – hochhackig im Pelzmantel. Und rauchend!
Nicht nur sollen solche Bilder dem Publikum helfen, sich die grauenhafte Vorgeschichte zu vergegenwärtigen; das gesamte Setting – Kostüme von Alessio Rosati und Bühnenbild von Lisetta Buccellato – ist darauf angelegt, die fatalen Verstrickungen des fluchbeladenen Atridengeschlechts aus einer mythologischen Antike in eine ungefähre Gegenwart zu holen.
Dazu hat die Bühnenbildnerin einen maroden rechteckigen Saal mit grünlichem Verputz, der schon leicht blättert, entworfen: Vestibül eines Palastes, Vorhalle eines Tempels? Die Bühnenrampe säumt ein kaum fußhoher Steg. Die Rückwand besetzt eine bühnenartige Nische; im oberen Drittel sind Zimmer und Fenster angedeutet. Das wirkt recht zufällig und vage; immerhin lässt es Raum für die Akteure, vor allem auch den – ausgezeichnet singenden! – Chor, dem als Priesterinnen und Skythen eine wichtige, geradezu antikische Bedeutung zukommt.
Nach der Pause verliert die Szenerie zunehmend an Plausibilität. So senkt sich im dritten Akt ein quaderförmiges Kabäuschen von oben herab – Szenenangabe: «Iphigenies Gemach» –, darin ein spartanisches Bett, die Wände der kargen Zelle vollgepflastert mit Fotos, Zeitungausschnitten, Notizen und dergleichen – Memorabilia aus leidvollen Jahren des Exils, muss man annehmen. Im vierten Akt – inhaltlich geht es um die rituelle Opferung Orests durch Iphigenie und deren Vereitelung durch die Sentenz der Artemis, dea ex machina – wird’s etwas banal: In der rückwärtigen Nische erscheint ein Gemälde im naiv-rustikalen Stil. Zwar müsste man das antike Tauris mit der Krim assoziieren, tatsächlich aber soll sich das Regieteam im Dunstkreis der amerikanischen Kirche «Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage» bedient haben. Jedenfalls schaffen die blaugrauen, uniformen Röcke und Kopftücher der Priesterinnen und das besagte Gemälde einen etwas gesuchten Bezug zu einer rigiden, von Männern dominierten Glaubensgemeinschaft, wo – so die Regisseurin im Programmheft – die Frauen unterdrückt, versklavt und ihrer Rechte beraubt werden.
Diese allzu plumpe Anbindung kommt etwas gar wohlfeil daher; die Stärke der Regie beruht aber zum Glück weit eher auf der Persönlichkeit der Protagonisten und deren persönliche Identifikation mit ihren Rollen als auf einer forcierten Aktualisierung. Dessen ungeachtet, gelingen einige berührende zwischenmenschliche Interaktionen – etwa zwischen den beiden Freunden Orest und Pylades, die sich um die Gunst des Todes streiten, dem vielfingrigen Auftritt der Eumeniden oder dem Erkennen zwischen Schwester und Bruder. Und natürlich dank Glucks packender Musik, die keine eigentlichen Rezitative mehr aufweist, sondern an deren Stelle orchesterbegleitete, vom Hammerflügel (Sonja Lohmiller) exquisit grundierte ariose affektgeladene Gebilde. Die Arien, auch sie von Leidenschaft, Seelenqual und Resignation gezeichnet, erzeugen eine physische Spannung zwischen innerer Befindlichkeit und äußerer Begebenheit. Dem Dirigenten Sebastian Schwab und dem Berner Symphonieorchester mit sattem Streicherklang, formidablen Holzbläser und präzis akzentuiertem Blech gelingt es hervorragend, Pathos, Erhabenheit und klassische Distanziertheit miteinander zu verbinden, sodass sich – selbst angesichts der Ungeheuerlichkeit des Dramas – eine erstaunliche Schlichtheit und ein natürlicher Fluss einstellen.
In diesem lebendig pulsierenden Klang dürfen sich die Sänger gut aufgehoben fühlen. Robin Adams in der Rolle des Thoas betont mit etwas eindimensionaler Stentorstimme die Unerbittlichkeit und Härte des Skythenfürsten (Anders als bei Goethe, gibt er die Gefangenen nicht in humanistisch-auklärerischem Gesinnungswandel frei, sondern wird von Pylades ermordet.) Für die Befreiung der Griechen und damit das obligate lieto fine sorgt Katharina Willi mit klarem Sopran als Diana/Artemis aus einer Seitenloge. Ein berührendes Beispiel an Männerfreundschaft liefern Orest und Pylades. Jonathan McGoverns beweglicher, auch in der Höhe leicht ansprechender Bariton unterstreicht weniger das Heldische, sondern das Verletzliche des traumatisierten Atridensohns. Als sein Freund Pylades – und Entdeckung des Abends – profiliert sich Michał Prószyński mit schlank geführtem Tenor, der das Lyrische ebenso wie den dramatischen Zugriff beherrscht.
Auch die Titelrolle konnte man aus den Reihen des eigenen Ensembles besetzten. Die südafrikanische Sopranistin Masabane Cecilia Rangwanasha – sie wird Bern zwar auf Ende Spielzeit Bern verlassen – gibt eine machtvolle Iphigénie. Ihr in allen Lagen in vielen Farben funkelnder, mitunter sogar herber Sopran lässt eine Frau erkennen, die sich mit dem traurigen Los nicht einfach abfinden will. Darstellerisch hätte man sich eine differenziertere Darbietung gewünscht – doch zweifellos wird man von dieser jungen Sängerin weiterhin hören.
Zur Darstellung des existenziellen Dilemmas zwischen Selbstaufgabe und Widerstand, zwischen «göttlicher» Fügung und selbstbestimmtem Schicksal, das die Protagonisten umtreibt, hätte auf die etwas banale Aktualisierung zugunsten geschärfter Abstraktion verzichtet werden können – vor allem im zweiten Teil. Denn: Sind die angesprochenen Konflikte letztlich nicht losgelöst von Ort und Zeit?
Szenenfotos: © Bühnen Bern – Janosch Abel
18. 05. 2023
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