Darf ich ausnahmsweise diesem Opernbericht einen kleinen architektonischen Exkurs voranstellen – schliesslich ist Oper ja ein Gesamtkunstwerk, und dies nicht nur, was das Geschehen auf der Bühne, im Graben und im Saal betrifft.
Hauptfoyer des Grand Théâtre (@Bild: Bruno Rauch)
Beim Besuch der Genfer Oper – des Grand Théâtre de Genève, wie der Musentempel offiziell heisst – erlebe ich jedes Mal eine kleine Irritation: Da betritt man zuerst ein prunkvolles Foyer, wie man es in der Stadt Calvins nicht erwarten würde. Geschaffen hat es der einheimische Architekt Jacques-Elysée Goss mit einem plagiatorischen Seitenblick auf das Pariser Palais Garnier in den Jahren 1874 bis 1876. Eröffnet wurde das Haus 1879 mit «Guillaume Tell», Rossinis letzter Oper.
Foyer Rath (© Bild GTG – Fabien Bergerat)
Nach einem Brand, 1951, hatte man das Haus nach einem langen Dornröschenschlaf in den 1960er Jahren «purifiziert», wie man damals sagte, was heisst: den originalen Prunk weitgehend unter Verschalungen, Spannteppichen und Anstrichen in puritanischem Grau und Beige verschwinden lassen – Calvin, eben! Zwischen 2017 und 2018 erfolgte dann eine zweite, umfassende Renovation, indem man den Bau komplett sanierte, Logistik und Infrastruktur des Hauses den heutigen Erfordernissen anpasste und den originalen Zustand, wo es möglich war, wieder herstellte. Genf besitzt somit das prächtigste imperiale Theater in der republikanischen Schweiz! Zumindest was die Foyers betrifft! Denn jetzt kommt der optische Clash: Dem damals komplett ausgebrannten Saal hatte man schon 1962 eine forcierte Kino-Ästhetik mit dunklem Holz und horriblen Kristalldekorationen verpasst, die aussehen wie Eiswürfel; das Ganze krönte man mit einem galaktischen Sternenplafond, der einer Disco bestens anstehen würde. Heute also verbinden sich die beiden Stile zu einer, nennen wir’s mal, «aparten» Ästhetik der Spannung...
Doch nun verdunkelt sich der Saal, das Spektakel beginnt. Auf dem Programm steht, in Koproduktion mit dem Teatro Real de Madrid, Jacques Fromental Halévys (1799–1862) Grand Opéra «La Juive».
Halévy, ursprünglich Levy, Sohn eines jüdischen Kantors und Talmudgelehrten, war ein Frühbegabter. Im Alter von zehn Jahren begann er sein Musikstudium am Pariser Conservatoire, dessen späterer Direktor Cherubini zu seinem wichtigsten Förderer und Mentor wurde. Von seinen rund dreissig Opern ist er aufgrund der 1835 uraufgeführten «Jüdin» in die Operngeschichte eingegangen, seines ersten und grössten Triumphs, der zusammen mit Meyerbeers gleichzeitig entstandenen «Hugenotten» zum Inbegriff der Grand Opéra wurde. In der Regel fünfaktig, mit obligatem Ballett, grossen Tableaus, reichem Gepränge und ausgeklügelten Bühneneffekten angereichert, stellt sie das zeittypische Genre des Second Empire dar; ihr Publikum ist nicht mehr der Hofstaat, sondern die Geldaristokratie, die zu Vermögen gekommene Bourgeoisie. Die Stoffe der Grand Opéra entstammen nicht mehr der Antike oder der Mythologie; ihre Themen sind nicht selten grosse politische Konfliktstoffe: Volksaufstand, Bartholomäusnacht, Glaubenskriege, Kolonialherrschaft ...
Da in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts noch eine gewisse Toleranz herrschte, war es dem Autorengespann möglich, die unterschwellige Judenfeindlichkeit auf die Bühne zu bringen. Allerdings – wie immer, wenn es galt, eine mögliche Zensur zu umgehen – verlegte der Librettist Eugène Scribe (1791–1861) das Geschehen vorsichtigerweise in eine ferne Epoche, immerhin ist diese Oper die erste, in der Juden in nicht biblischem Kontext auftreten. Scribe war nicht nur der versierteste, er war auch der erfolgreichste Bühnenautor seiner Zeit, der für fast sämtliche zeitgenössischen Komponisten «produzierte» (so darf man tatsächlich sagen, da er sein Metier wirtschaftlich kommerzialisierte). Einzig mit Richard Wagner kam es nicht zu einer Zusammenarbeit. Dieser fand übrigens für die «Jüdin» – natürlich primär auf Halévys Musik bezogen – erstaunlich lobende Worte, als er das Werk 1837 in Dresden erstmals hörte. So würdigte er nicht nur ihr in seinen Augen perfekt umgesetztes historisches Kolorit, sondern attestierte dem Komponisten, «Musik zu schreiben, wie sie aus den innersten, gewaltigen Tiefen der reinsten menschlichen Natur hervorquillt». Wenige Jahre später, in Paris, lernte er Halévy persönlich kennen und erstellte sogar den Klavierauszug zu dessen «Reine de Chypre» (Ein weiteres lohnendes Werk, das die Fondazione Palazzetto Bru Zane in gewohnt gepflegter, bibliophiler Aufmachung 2018 eingespielt hat).
Historiengemälde
Tatsächlich spielt die Oper in historischer Zeit, nämlich 1414 während des Konzils zu Konstanz. Dessen Ziele bestanden unter anderem darin, die «Ketzerei» der Hussiten zu verurteilen und die vom Schisma bedrohte Einheit der Institution als sancta, catholica et apostolica ecclesia wieder zu festigen. In den Strudel des religiösen Fanatismus und latenten Antisemitismus (wie er, also gut fünfhundert Jahre später, auch die Entstehungszeit der Oper selbst prägte) geraten der Goldschmied Éléazar und seine Ziehtochter Rachel; sie werden zum Tod in siedendem Wasser verurteilt. Zum einen hat der Juwelier während der Festtage laut hämmernd gearbeitet, zum andern, stellt sich heraus, dass seine Tochter ein Verhältnis mit einem Christen hat. Denn wie es zur Oper gehört, ist im Stoff auch eine Liebesgeschichte zwischen Rachel und dem Reichsfürsten Léopold angelegt, der als Besieger der Hussiten gefeiert und geehrt werden soll, sich vor Rachel aber als Jude Samuel ausgibt. Auch über seine Ehe mit Prinzessin Eudoxie, der Nichte Kaiser Sigismunds, lässt er sie lange im Ungewissen. Erst ganz zum Schluss erfährt auch Kardinal Brogni, der dem Konzil vorsteht und ein alter Widersacher Éléazars ist, dass Rachel seine leibliche Tochter ist: Éléazar hatte sie vor Jahren als Kleinkind aus einem Feuerbrand aus Brognis Haus gerettet, in Obhut genommen und im jüdischen Glauben erzogen. Dieser komplexe, um nicht zu sagen verwirrende Plot ist typisch für die Grand Opéra, die ihr theatralisches Potenzial just aus derart vielschichtigen Handlungssträngen bezieht.
Am Pult steht Maestro Marc Minkowski, der in den frühen 1980er-Jahren einer der Jungspunde der historisch informierten Musikszene und Gründer der Musiciens du Louvre war, heute jedoch auch ein wichtiger Exponent des romantischen Repertoires, vorab des französischen, ist. Mit dem glänzend disponierten, grossbesetzten Orchestre de la Suisse romande versteht es der mittlerweile schlohweisse Dirigent, die orchestralen Klangwelten Halévys bis in die feinsten Verästelungen auszuloten. Halévys vielschichtige Partitur darf man getrost als eine der grossartigsten ihres Genres bezeichnen, lebt sie doch von effektvollen Kontrasten: Neben pompösen Massenchören stehen zarte Duette und Terzette, extravertierter Bombast neben gehaltvoller Intimität, Reisserisches neben Berührendem, Erhabenes neben Schlichtem – Halévy war nicht nur ein Meister in Sachen dramaturgischen Bühnensinns und glänzender Orchestrierung: Er beherrschte den pastosen Effekt genauso wie die feinziselierte Linienführung. Und Marc Minkowski ist ein idealer Fürsprech dieser Musik; er lässt sie atmen und fliessen, gibt ihr Zug, ohne zu hasten. Ein Glanzpunkt ist das nuancierte Farbspektrum der famosen Holzbläser – Minkowski war selbst Fagottist! –, wie zum Beispiel die exquisiten Englischhörner über dem Pizzicatogeflüster in Éléazars berührender Arie im 5. Akt. Selbst in den beeindruckenden Massenszenen bleibt der Klang schlank, federnd, licht – wenn es so etwas gibt wie ein typisch französisches, der Clarté verpflichtetes Klangideal: hier war es zu hören!
Hochkarätiges Ensemble
In dieses Klangbild fügt sich das sängerische Ensemble perfekt ein. Angeführt wird es von John Osborn als Éléazar. Sein flexibler, an Farbschattierungen reicher Tenor wird dieser facettenreichen Rolle voll gerecht; der ausgezeichnete Interpret scheut sich auch nicht, auf Kosten des Ausdrucks stimmlich an die Grenzen zu gehen. Und er singt sogar die oft gestrichene Stretta in der erwähnten berühmten Arie «Rachel, quand du Seigneur...». Souverän bedient er sämtliche Gefühlsregister: Starrsinn, Selbstbewusstsein und Stolz, aber auch Menschlichkeit, Vaterliebe und Würde – eine innerlich zerrissene, grandiose Figur.
Auf Augenhöhe begegnet ihm Ruzan Mantashyan als seine Tochter. Mit packender Intensität und innerer Glut setzt sie ihren warm timbrierten, ebenmässigen Sopran für die Gestaltung der Rachel ein, der sie auch darstellerisch die Anmut eines jungen Mädchens und die Noblesse einer reifen Frau verleiht. Elena Tsallagova gibt die Prinzessin Eudoxie, deren hochgetürmte Frisur genauso extravagant anmutet wie ihre perlenden Koloraturen. In ihrem knallgelben Pelz und später in einer opulenten Robe wirkt sie wie das puppenhafte Relikt einer vergangenen Zeit, gewinnt aber in ihrer grossen Szene im 3. Akt menschliche Statur und sogar mütterliche Züge, wird sie doch von vier putzigen Kinderchen (!) begleitet. Hier scheint der Regisseur David Alden der Musik etwas wenig zu vertrauen, indem er die Situation plakativ unterstreicht: Um ihrer Gefühlsaufwallung für den Gatten Léopold Ausdruck zu geben, zaubert Eudoxie hinter einem roten Vorhang das eheliche Lager herbei, auf dem der halbnackte Angebetete erotisch hingegossen schlummert... Na ja, wir hätten’s auch sonst begriffen. Etwas ungewohnt ist sodann die Schlussszene, in der die Prinzessin noch vor Rachel in den Tod geht; hier orientiert sich die Regie inhaltlich zwar am wunderbaren Duett zu Beginn der 4. Akts, wo die beiden Frauen ihre Liebe zum treulosen Verführer beteuern; dennoch, im Schlussbild wirkt dieser Schritt etwas unmotiviert – frauensolidarischer Doppeltod für den Geliebten (der es einmal mehr gar nicht verdient!). Was indes bei Rachel eine weit bedeutsamere Dimension annimmt: Festigkeit im Glauben und Fanal gegen religiöse Intoleranz!
Obwohl die Regie als Ganzes zu überzeugen vermag, sind einzelne Szenen – vielleicht um der optischen Wirkung Willen? – überzeichnet. Die beschriebene «Bettszene» gehört dazu. Ebenso das grosse Holzkreuz, das, einmal umgekippt, sich flugs in eine Tafel zur Zecherei verwandelt. Oder das kopulierende Paar, das sich im Hintergrund verlustiert, während Léopold eine Serenade unter Rachels Balkon schmachtet. Ioan Hotea als Léopold bekundet bei diesem Kaltstart etwas Mühe; sein heller, höhensicherer Tenor gewinnt aber im Verlauf des Abends zunehmend an Kontur, Stabilität und Brillanz. Interessant, wenn auch vielleicht etwas befremdlich, wie er, der sich anfänglich auch äusserlich als (fingierter) Jude präsentiert, sich bezüglich des Kostüms immer mondäner gibt, bis er am Schluss zum goldgewandeten Dressman mutiert – Traumprinz, Trugbild, Idol?
Mit einem Plädoyer für Milde und Menschlichkeit – ein Sarastro des 19. Jahrhunderts – trumpft Dmitry Ulyanov mit orgelndem Bass als Kardinal Brogni auf. Und wie die mozartsche (Zwie-)Lichtgestalt fasziniert auch Ulyanovs Rollenprofil durch Ambiguität: ein machtvoller Finsterling und gleichzeitig ein verwundbarer Potentat. Leon Košavić in der Doppelrolle als Ruggiero, Schultheiss von Konstanz, und Albert, kaiserlicher Offizier, ergänzt das hochkarätige Ensemble mit kernigem Bariton. Nicht zu vergessen: Der Chor, von Alan Woodbridge einstudiert, der mit Präzision, vokaler Emphase und darstellerischer Power agiert.
Was für die Regie gesagt wurde, trifft grundsätzlich auch auf die historisierenden Kostüme von Jon Morrell zu, der mitunter auch einen Seitenblick in die jüngere Zeit wagt, etwa bei den knüppelschwingenden Schergen. Die Juden sind charakterisiert durch Kippa und Bart; das amorphe Kollektiv der Christen trägt schwarze, quäkerhafte Kostüme und, um die Gleichschaltung zusätzlich zu unterstreichen, starre Masken. Ein – zwar schwacher – Ersatz für das gestrichene Ballett sind die ruckartigen Tanzschritte und Hopser und die pantomimisch-gestischen Einlagen des Volks mit Gebetsbüchern und Rosenkränzen, welche die raffinierte Lichtregie von D. M. Wood als unheimliche Schattenbilder an die Wand wirft.
Gideon Daveys Bühnenbild wirkt ziemlich disparat; eine stringente Ästhetik sucht man vergeblich – vielleicht wäre das auch gar nicht im Sinn der Grossen Oper? Den Bühnenraum besetzen zu Beginn schmucklose Fassaden, rechts ein paar Fensteröffnungen, die Werkstatt des Goldschmieds. Was die Uhr an Éléazars Haus bedeuten soll – sie geht, sie steht, sie schlägt, sie steht ...? Später teilen sich die Wände und lassen eine gigantische Orgel für das feierliche «Te Deum» sehen. Diese bildet auch das Szenario für den stummen, aber bildgewaltigen Auftritt Kaiser Sigismunds. Gelungen ist die intime Pessach-Feier im Haus des Juden – allerdings ausgerechnet ohne die typische Menora. Über das unmotivierte Liebeslager habe ich mich bereits ausgelassen. Für die Schlussszenen zeigt die Bühne dann eine bedrohlich düstere Gefängniswelt, wo links der Todesofen glüht und dampft – der Verweis ist klar...
Die ganz Produktion laviert zwischen der mittelalterlichen Zeit der Handlung, der biedermeierlichen Entstehungszeit des Werks und dem aufdämmernden Nationalsozialismus des frühen 20. Jahrhunderts. Obwohl die Affäre Dreyfus von 1894, und obwohl die 1930er Jahre und ihre Folgen unterschwellig präsent sind, vermeidet die Regie mit Ausnahme des erwähnten Schlussbilds allzu konkrete Anspielungen. Das Schaffen der unheilvollen Bezüge bis zur Aktualität dagegen ist dem Publikum anbefohlen. Und das ist gut so. Es erzeugt eine langanhaltende Wirkung.
Bilder: Grand Théâtre de Genève GTG – Magali Dougados
(Aufführungsbesuch: 25.10.2022)
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Dein Bericht ist hervorragend und schildert einem diese Produktion, auch wenn man nicht persönlich nach Genf reisen kann.
G. A.
Ich habe noch selten eine so gute, prägnante und ausführliche Opern-Kritik gelesen. Gratuliere!
M.. E.