Eigentlich unverständlich, warum «Il pirata» von Vincenzo Bellini den Weg so selten auf die Bühne findet, folgt die Handlung dieser Oper doch genau dem Schema der romantischen Oper schlechthin:Sopran ist wider Willen mit Bariton liiert, liebt aber Tenor.
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Damals, am 27. Oktober 1827, anlässlich der Premiere an der Scala wies auch tatsächlich alles auf einen nachhaltigen Erfolg hin. Aussergewöhnlich war allein schon die Tatsache, dass ein junger Komponist aus Catania – Bellini war gerade mal 26 Jahre alt – die Chance erhielt, sein drittes Bühnenwerk am renommiertesten Theater Italiens und damit dem anspruchsvollen Mailänder Publikum präsentieren zu können. Bislang hatte der «sanfte Sizilianer», wie man den blondlockigen, hübschen Dandy – Schwarm der Frauen und Zielscheibe von Heinrich Heines beissendem Spott* – oft etwas herablassend bezeichnete, Erfolge mit erst zwei Opern und nur in Neapel feiern können, wo er auch studiert hatte.
Neben diesem sensationellen persönlichen Erfolg, der Bellini schlagartig weit über die Landesgrenzen hinaus bekannt machte, ist das Werk auch entwicklungsgeschichtlich ein Meilenstein, bezeichnet es doch den Beginn der italienischen Romantik in der Oper – vergleichbar etwa mit Webers «Freischütz» (1821) für die deutsche und Meyerbeers «Robert le diable» (1831) für die französische Oper.
Zum Dritten markiert «Il pirata» den Beginn einer äusserst fruchtbaren Zusammenarbeit mit dem Librettisten Felice Romani (1788–1865), der mit Rossini, Simon Mayr, Donizetti, Mercadante, Meyerbeer oder Pacini zusammenarbeitete und für Bellini die Texte zu einem halben Dutzend weiterer Opern verfasste, darunter die beiden meist gespielten «La Sonnambula» und «Norma».
Bühnenbild der Uraufführung vom 27. Oktober 1827 von Alessandro Sanquirico
Für «Il pirata» stützte sich Romani auf das französische Bühnenstück «Bertram ou le pirate» von Isidore Taylor. Dieses basiert seinerseits auf der Tragödie «Bertram or the Castle of St. Aldobrand» von Charles Maturin, der mit seiner Erzählung «Melmoth or the Wandering Man» (1820) das typisch britische Genre der Gothic Novel begründete und eine Flut von derartigen Schauergeschichten auslöste. Oft – so auch im «Bertram» – steht in deren Zentrum ein fluchbeladener «Held». Romani und Bellini haben jedoch ihren Piraten weitgehend entdämonisiert: Hier ist Bertram, Gualtiero wie er jetzt heisst, aus enttäuschter Liebeserwartung zum Outcast geworden. Imogene gibt sich ihm nicht ehebrecherisch hin. Sie wird auch nicht zur Mörderin ihres Sohnes aus der Ehe mit dem ungeliebten Ernesto, den sie nur geheiratet hatte, um ihren Vater zu retten. Der Schluss wurde ebenfalls abgeändert: Bei Maturin begeht Bertram nach dem Duell Selbstmord, jetzt jedoch stellt er sich freiwillig dem Gericht und wird zum Tod verurteilt. Als die Trompete die Vollstreckung des Urteils verkündet, verfällt Imogene dem Wahnsinn. Mit ihrer Wahnsinnsarie endet die Oper.
Wahnsinn aus Liebeskummer gab es auf der Opernbühne schon früher, und oft handelt es sich dabei um eine vorübergehende geistige Verwirrung, die von einem glücklichen Geschick geheilt wird. Mit Paisiellos «Nina o la pazza per amore» oder Mozart Sandrina aus «La finta giardiniera» wurde das einstige «Männerprivileg» von Orlando & Co. bereits im 18. Jahrhundert gebrochen. Im Neunzehnten erfolgt nun mit der Gestalt der Imogene ein weiterer Paradigmenwechsel: Vom Geliebten betrogen oder von ihrer eigenen Familie in eine unglückliche Verbindung gezwungen, verlieren unzählige Opernheroinen den Verstand; die Geistesverwirrung wird zur Chiffre für den Rückzug, die Flucht aus einer bürgerlich-patriarchalen und damit den weiblichen Bedürfnissen feindlich gesinnten Welt.
Der gemäss Zeitgenossen hochsensible Bellini hat diesem Seelenzustand der Gebeutelten vielfach klingende Gestalt verliehen – und gewiss auch dem Publikumsfaible für Extremsituationen entsprochen. Doch nicht nur die eigentliche Wahnsinnsszene, die das emotionale wie virtuose Epizentrum des Werks bildet, lässt den ausgeprägten Theaterinstinkt des jungen Komponisten für die Schilderung grossformatiger Emotionen erkennen. Gekonnt nutzt er auch die atmosphärische Dichte des Schauerdramas, das mit allen romantischen Ingredienzien – Sturm, Schiffbruch und Wrack, Eremit, Duell, Tod und eben Wahnsinn – aufwartet; alles treffliche Gelegenheiten, sein melodisches Genie mit geballter Dramatik, die delikate Harmonik mit der wie «mit dem Silberstift» (R. Wagner) gezeichneten weitgeschwungenen, endlosen Gesangslinie zu verbinden
Das zeigt sich schon in der dreiteiligen Eingangssinfonia, die bezeichnenderweise mit einem Allegro con fuoco anhebt und sich nach einem Allegro agitato zu einem ersten erregten Chor der Fischer im Zwiegespräch mit einem Einsiedler verdichtet. Ihm, dem Chor, kommt auch im weiteren Verlauf immer wieder eine dramaturgisch bedeutsame Rolle zu als Kommentator, Zeuge oder Gegenpart des solistischen Geschehens – für einmal auch nicht abgelenkt durch mitunter mehr oder weniger glückliche Aktionen. Singen, einfach singen, und dies, einstudiert durch Janko Kastelic, hervorragend!
Natürlich mag man den Verzicht auf die szenische Aufführung bedauern. Doch die Konzentration aufs Musikalische kann durchaus auch einen Gewinn darstellen, zumal die Philharmonia Zürich unter Iván López-Reynoso sich ihrer Aufgabe mit unerhörtem Brio und Schwung annimmt. Das Heraustreten aus dem Orchestergraben scheint die Instrumentalisten, drunter eine ganze Anzahl von sogenannten Akademisten, zusätzlich anzuspornen – vielleicht war das mit ein Grund, dass die Forte-Stellen, vor allem im ersten Teil, sehr forsch und mitunter gar knallig klangen. Dennoch blühten immer wieder lyrische, subtilere Passagen auf, vornehmlich im zweiten Teil und ganz besonders berührend in der elegischen Introduktion für Englischhorn (Clément Noël) zur finalen Wahnsinnszene.
Auch die vokalen Leistungen bewegten sich auf hohem Niveau, und dies, obwohl krankheitsbedingte Umbesetzungen die Produktion von Anfang an überschattet hatten. So musste der Tenor Javier Camarena seinen Auftritt als Gualtiero eine Woche vor der ersten Aufführung absagen; einen Ersatz für diese wenig bekannte, aber anspruchsvolle Partie zu finden, war ein schier aussichtsloses Unterfangen. Schliesslich fand sich Ersatz in den eigenen Reihen: Andrew Owens, Ensemblemitglied seit 2021, stellte sich der Herausforderung und lernte die Partie innert Wochenfrist. Dass er noch in der letzten der drei Aufführungen mit einer stimmbandbedingten Indisposition zu kämpfen hatte, die Vorstellung dennoch sang und auch durchstand, ist dem amerikanischen Tenor hoch anzurechnen. Die stimmlichen Einschränkungen waren nicht zu überhören, aber ebenso konstatierte man, wie klug und professionell er damit umging, etwa durch Ausweichen ins Kopfregister und Wegnahme des Drucks. Doch auch tenoraler Glanz war zu hören: Owens viriles Timbre von metallischem, zupackendem Aplomb passt bestens zur Gestalt des Piraten, der die Frau, die er liebt, zugleich mit harschen Worten bedrängt.
Konstantin Shushakov gab den zwischen Machtanspruch und Liebe schwankenden Herzog Ernesto. Der schon von der Erscheinung her noble Sänger verfügt über einen angenehmen, agilen Bariton, dem er bei Bedarf auch härtere, rauere Nuancen beimischen kann. Imogene, die Frau zwischen Geliebtem und Gemahl, wurde von Irina Lungu gesungen, deren Interpretation der anderen grossen Wahnsinnigen, Lucia di Lammermoor, in lebhafter Erinnerung ist. Wie damals besticht die Sängerin mit ihrer perfekt geführten Stimme und dem nahtlosen Registerwechsel. Die offenbar unter anderem an der Met und in der Arena di Verona geschulte mächtige Stimme überzeugt durch Strahlkraft, kann in der Höhe auch mal eine gewisse Schärfe annehmen. Tadellos jedoch die Phrasierung der langen Kantinen, die farblich nuancierten Piani ebenso wie die glitzernden Koloraturketten. Trotz aller erlittenen Schmach und selbst im Wahnsinn keine gänzlich gebrochene Frau – und vielleicht gerade dadurch ein Korrektiv zum über Generationen tradierten Frauenbild.
Irène Friedli (Adele, Imogenes Zofe), Stanislav Vorobyov (Goffredo, Eremit) und Thomas Erlank (Itulbo, Gefolgsmann Gualtieros) vervollständigen das Ensemble hervorragend, sängerisch wie darstellerisch. Die konzertante Darbietung verzichtete zwar auf Kulissen und Kostüme – einzig die Primadonna liess es sich nicht nehmen, drei verschiedene Roben vorzuführen! –, dennoch wurde das musikalische Geschehen durch dezente szenische Gesten und Gänge unterstützt und belebt: Auftritte von verschiedenen Seiten, sogar von hinten durch das Orchester, Kniefälle, Drohgebärden,Umarmungen u. dgl. (Natascha Ursuliak). Ein gelungenes Beispiel dafür, dass qualitätvolle Musik und ausgezeichnete Interpreten sehr wohl für einen intensiven Opernabend sorgen können.
* In Heines Novelle «Florentinische Nächte» schildert Maximilian die Erscheinung des immer akkurat gekleideten und wohl frisierten Bellini als «Seufzer en escarpins (in Pumps)»
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