Hermann Hesse (Joel Basman), Ida Hofmann (Julia Jentsch) und Otto Gross (Max Hubacher) ©Bilder DCM-Film
Berge übten schon immer eine – mitunter fatale – Anziehung auf Menschen aus. Irgendwie, so scheint es, fühlt man sich da dem Himmel, dem All ein klein wenig näher und dem irdischen Getriebe ein wenig mehr entrückt. Das gilt nicht nur für wagemutige Kletterer und hochragende Gipfel. Das galt und gilt auch für den nur gut 300 Meter hohen Hügel oberhalb von Ascona, den Monte Verità, der eine traumhafte Aussicht auf die insubrische Landschaft des Verbano bietet. Und darüber hinaus als Kraftort gilt. Zumindest für jene, die’s spüren – die Sensiblen, die Künstler, die Heilssucher und Esotheriker, die Soft-Kommunisten und Weltverbesserer, die Vegetarier, Aussteiger, Utopisten, Lebensreformer ...
Ein solch vielfältiges Völkchen begann sich oberhalb des damals noch Monte Monescia genannten Weinbergs einzufinden, wo das visionäre Paar, der Kaufmann Henri Oedenkoven und die Pianistin Ida Hofmann, zusammen mit weiteren Gleichgesinnten 1900 ein Stück Land erworben und darauf eine «Vegetabile Cooperative» errichtet hatten. Da sie sich als Suchende nach der Wahrheit, fernab von «dem lügnerischen gebaren der geschäftswelt u. dem her konvenzioneler forurteile der geselschaft» verstanden (zit. Hofmann in der neu entwickelten Orthografie), nannten sie den Ort Monte Verità. Nach einiger Zeit etablierte sich der Name auch bei den anfänglich irritierten Ortsansässigen, die diese Hippies avant la lettremisstrauisch als Spinner abtaten, aber grundsätzlich gewähren liessen. Immerhin fanden sich unter diesen auch illustre Namen wie der noch unbekannte Schriftsteller Hermann Hesse, die Ausdruckstänzerin Isadora Duncan, der Wiener Psychoanalytiker Otto Gross u. a. m.
So viel Vorwissen schadet nicht für den Besuch des Films des Schweizer Regisseurs Stefan Jäger, der unlängst am 74. Locarno Film Festival 2021 gezeigt wurde. Das Drehbuch stammt von Kornelija Naraks. Sie kombiniert historische Fakten und reale Personen mit der Biografie einer fiktiven Figur: ein immer wieder bewährter Kunstgriff, um die Geschichte des Bergs ums Jahr 1906 anhand eines Einzelschicksals lebendig und anschaulich werden zu lassen. Auslöser seien Fotografien aus jener Zeit gewesen, deren Autorenschaft im Dunklen liegt; die Fotografie aus jenen klobigen Apparaten bildet denn auch eine Art inhaltliches und optisches Leitmotiv, indem einzelne Szenen immer wieder zu Schwarz-Weiss-Bildern erstarren, wie auf eine Glasplatte gebannt.
Dichtung und Wahrheit Im Fokus also steht die frei erfundene Gestalt Hanna Leitner (Maresi Rieger). Sie ist die Gattin eines erfolgreichen Wiener Fotografen und Mutter zweier Mädchen. Die gutbürgerlich-konservativen Gesellschaftsordnung ist für die junge Frau ebenso einengend wie die enggeschnürte Korsage der damaligen Mode. Zudem leidet sie unter den erniedrigenden Ansprüchen des patriarchalen Ehemanns Anton (Philipp Hauss), sodass ihr der Psychotherapeut Otto Gross (Max Hubacher) zu einer Kur in der Naturheilstätte auf Monte Verità rät. Auch er, eine etwas zwielichtige historische Figur und selbst kokainsüchtig, reist ins Tessin, um sich für eine Weile der Kommune anzuschliessen.
Immer wieder hat Hanna mit Gewissensbissen zu kämpfen, weil sie Ihre Stellung als Ehefrau und Mutter verlassen hat. Andererseits hilft ihr das in mehrfacher Hinsicht freie und freizügige Gebaren auf dem Wahrheitsberg auf ihrem Weg zur Selbstfindung. Mit grossen dunklen Rehaugen verfolgt sie das Treiben um sich herum, etwa die rituellen Tänze oder die literarischen Ergüsse des jungen Hermann Hesse (Joel Basmann), der sich dazu aus seinen Kleidern schält, um von Kopf bis A... Teil des Universums zu werden.
Begleitet und unterstützt wird Hanna bei der Entdeckung dieser für sie fremden Welt von der resoluten Matriarchin Ida (Julia Jentsch), besonders aber von der geheimnisvollen Lotte Hattemer (Hanna Herzsprung), ebenfalls eine historische Figur, deren mysteriöser Tod – oder Suizid – im Film diskret angedeutet wird. Hand in Hand mit der Befreiung aus alten Denkmustern und Moralvorstellungen entdeckt Hanna ihre Kreativität und ihre Leidenschaft fürs Fotografieren, was ihr der despotische Gatte bislang verwehrt hatte.
Schöne Bilder – wenig Biss Diese Geschichte hat Potenzial als Beitrag zur weiblichen Emanzipation, die hier zwar als – durchaus akkurat gestaltete – Kostümschwarte daherkommt, aber absolut aktuell ist, aktuell wäre! Nur, sie wird, trotz Rückblenden, brav und bieder erzählt; die Dialoge sind schwerfällig, belehrend, mitunter gar betulich, versuchen sie doch einen etwas obsoleten Sprachduktus einzufangen und kranken dadurch an fehlender Lebendigkeit. Diesen Mangel kann auch die bedeutungsschwangere optische «Untermalung» nicht ausmerzen – etwa ein Gewitter, eine dräuende Wolke vor dem Mond, ein jäher Schatten, eine krabbelnde Ameise, ein betautes Spinnennetz. Im Gegenteil, die hintersinnige Bedeutsamkeit wirkt, bei aller Sorgfalt und Schönheit einzelner Einstellungen, gesucht und ermüdend, ja, sie bedient oft das Klischee und rammt gefährlich nah am Kitsch.
Die schauspielerischen Leistungen aller Mitwirkenden sind ansprechend. Allerdings wirken sie mehrheitlich als eigentliche Staffage in reduzierten und unwichtigen Nebenrollen, die wenig Spielraum zur Profilierung bieten – mit Ausnahme vielleicht von Hubacher alias Doktor Gross. Im Zentrum dagegen steht konzeptgemäss die Figur der Hanna Leitner. Aber auch Maresi Rieger bleibt weitgehend blutleer und eindimensional; ihr Schicksal vermag uns nicht wirklich zu berühren, geschweige denn zu packen.
Monte Verità – Der Rausch der Freiheit, wie der vollständige Filmtitel lautet, bleibt, obwohl der Stoff mehr hergäbe, lediglich ein harmloses, wenn auch routiniert ins Bild gesetztes Schwipschen!!
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