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Sieben Töne, sieben Tasten, sieben Tänzerinnen

Die Schumanns: Robert (Karen Azatyan) und Ehefrau Clara (Nancy Osbaldeston)


Nicht selten liefert das reale Leben die besten Vorlagen für Roman, Film, Theater. Auch das bewegte und bewegende Schicksal der Clara Wieck, die nicht nur die Frau von Robert Schumann, sondern selbst eine bedeutende Pianistin und Komponistin war, bietet reichlich Stoff für ungezählte Adaptionen in Wort und Bild. Ganz zu schweigen von den unzähligen Biografien und einer Flut von Sekundärliteratur. Sogar der einstige Hundertmarkschein trug ihr Porträt.

Jetzt hat Cathy Marston, seit August 2023 Ballettdirektorin am Zürcher Opernhaus, einen Abschnitt im Leben dieser außergewöhnlichen Frau als Vorlage für ein abendfüllendes Ballett gewählt – nachdem sie diese Idee über 21 Jahre mit sich herumgetragen und vertieft hatte, angeregt – was Wunder – durch eine Romanbiografie.

 

Schon das erste Bild ihrer jüngsten Choreografie umreißt die Idee, die dem ganzen Abend zugrunde liegt: Musik! Klaviermusik!!

Links eine Wand mit schmalen, hohen Fensteröffnungen und -türen, raffiniert beleuchtet (Licht: Martin Gebhardt), sodass helle Flächen im Wechsel mit dunklen Schlitzen eine riesige Klaviatur suggerieren: weiße Tasten, schwarze Tasten. Später kommt zu dieser strengen, «mechanischen» Bühnenarchitektur der geschwungene Resonanzkörper eines immensen Flügels, der als leicht angehobenes Podest in Schräglage eine zweite begrenzte Spielfläche auf der weiten, ebenen Bühne schafft: Insel, Rückzugsort, Freiraum, einmal gar Liebeslager und schließlich Ort der Einsamkeit, Zwangsrefugium...? Entworfen hat diese bezwingend einfachen, «musikalischen» Kulissenelemente, die sich auch verschieben lassen, die Bühnenbildnerin Hildegard Bechtler. 

Jetzt, zu Beginn, stehen rechts sieben Tänzerinnen akkurat aufgereiht nebeneinander wie die sieben Tasten, die sieben Töne einer Oktave. Sie tragen weiße, teils plissierte Kleider, deren Brust- und Schulterpartien schwarz eingefärbt sind. Auf den ersten Blick alle gleich. Doch bei näherem Hingucken entdeckt man kleine, feine Unterschiede – etwa am Ausschnitt, in der Façon der Ärmel, in der Rocklänge. Diese Kostüme wie alle übrigen hat Bregje van Balen kreiert und sich dabei andeutungsweise an der bürgerlichen Eleganz der 1850er Jahre orientiert: Grelle Akzente werden vermieden, es dominieren erdige Farben, viel Schwarz und zu Schwarz tendierendes Blau, Grün und Rot.

 

Die sieben Claras repräsentieren die unterschiedlichen Phasen, Pflichten und Aufgaben, die Clara Schumann-Wieck im richtigen Leben zu meistern hatte – geradezu eine Steilvorlage für heutige Ratgeber zum Thema Kinder, Küche, Karriere! Ein Spagat, den sie mit bewundernswerter Disziplin, geistiger Regsamkeit und getrieben vom inneren Feuer der Künstlerin bewältigte: das Wunderkind (getanzt von Giorgia Giani); die Künstlerin (Ruka Nakagawa); die Ehefrau (Nancy Osbaldeston); die Mutter (Sujung Lim); die Pflegerin (Inna Bilash) des kranken Gatten; die Managerin (McKhayla Pettingill) der eigenen Karriere und des Vermächtnisses von Robert; die Muse (Max Richter) ihres Roberts – für den schwärmerischen Johannes Brahms war sie vielleicht sogar mehr...

Robert Schumann Clara Schumann-Wieck Johannes Brahms

(1810-1856) (1819–1896) (1833–1897)


Der Auffächerung in sieben Darstellerinnen liegen weniger tiefenpsychologische oder metaphysische Überlegungen zugrunde. Vielmehr sind sie Ausdruck von Clara Schumanns künstlerisch und menschlich immenser Leistung, gemischt mit verhaltener Sozialkritik. Doch auch wenn die sieben Claras mitunter gemeinsam auftreten, lassen sie sich klar einzelnen Ereignissen und Lebensspannen zuordnen und veranschaulichen bildhaft die verschiedenen Facetten einer aktiven, um Selbstbestimmung ringenden Frau und ihres unbeugsamen, unermüdlichen Geistes. Ebenso schaffen sie – ich gestehe es – entgegen meinen vorgängigen Bedenken ein problemloses Nachvollziehen der einzelnen Episoden des zweistündigen Abends. Dieser beginnt, ohne sich sklavisch an die Jahreszahlen zu halten, um etwa 1830 mit der kindlichen Clara, die zur Klaviervirtuosin herangezüchtet werden soll, und endet mit dem Tod Roberts und dem Wegzug aus Düsseldorf von Brahms im Sommer 1856.

 

Situationen und Konstellationen also, die anhand von metikulösen Tagebucheinträgen und Briefen überliefert sind – sofern sie nicht von den Schreibenden selbst vernichtet oder von einer kleinlichen Nachwelt zwecks Idealisierung zensuriert und beschönigt wurden. Trotz vieler glaubwürdiger Zeugnisse bleiben gewisse Details ungeklärt; für die Choreografin allerdings eine Chance. Denn: Umso freier kann sie mit dem Material umgehen. Richtschnur und zuverlässigste Quelle bleibe für sie allemal die Musik, unterstreicht Cathy Marston, denn Rückfragen bei Zeitzeugen wie für ihr letztes, ähnlich gelagertes Projekt «The Cellist – Jacqueline du Pré» (London, 2020; Zürich, 2023) entfallen hier zwangsläufig.

Tatsächlich ist die Musik auch an diesem Abend weit mehr als akustische Unterstützung des Geschehens auf der Bühne. Philip Feeney hat eine überaus schlüssige Partitur eingerichtet aus 28 Originalkompositionen von Clara und Robert Schumann und Johannes Brahms: Kammermusik, einzelne Sätze aus Klavierkonzerten, Klavierstücke, Lieder... Raffiniert und effektvoll verbindet er die originale Musik mit eigenen kurzen, stimmungsvollen Zwischenspielen oder erlaubt sich auch schon mal eine freie Bearbeitung, beispielsweise einiger Lieder für Singstimme und Klavier, und setzt dafür u. a. Marimbaphon, Harfe und diverse Bläser ein. Wunderbar seine Interpretation der «Mondnacht»!


Ein wichtiger Anteil, wie könnte es anders sein, kommt dabei dem Klavier zu. Ragna Schirmer, eine ausgewiesene Kennerin von Clara Schumanns Werk, sitzt am Flügel im Graben (!) und meistert den pianistischen Marathon mit nie nachlassender Präsenz und hinreißender Musikalität. Sie versteht es, ihr Spiel der primär keineswegs für eine tänzerische Darbietung konzipierten Musik sowohl energetisch als auch emotional stringent in das Treiben auf der Bühne einzubinden und dennoch den eigenen interpretatorischen Ansatz zu wahren. Daniel Capps am Pult der motivierten Philharmonia Zürich sorgt nicht nur für die präzise Koordination zwischen Graben und Bühne, sondern schafft «Ballettmusik» vom Feinsten. 

(Kleine Abschweifung: Warum wohl erklingt keiner der «Davidsbündlertänze» – wär’s vielleicht zu offensichtlich? Und noch interessanter: Kein Lied aus dem schumannschen Zyklus «Frauenliebe und -leben», op. 42, ist in die Produktion eingeflossen. Was naheliegend gewesen wäre, musste doch Clara selbst gegen das dort geschilderte Rollenbild der Gattin und Mutter im 19. Jahrhundert ankämpfen. Sie scheint besagten Zyklus geschätzt zu haben, nahm sie ihn doch gelegentlich sogar in ihre wohldurchdachten Programme auf. Spannend zu erfahren, was sie als emanzipierte, eigenständige Frau wohl über dessen Inhalt gedacht hatte... Leider existiert darüber keine authentische Aussage. Und wie hätte allenfalls eine tänzerische Umsetzung ausfallen können? Verständlich, dass Marston und ihr Co-Dramaturg Edward Kemp diese Leerstelle auch in ihrer Arbeit aussparten – doch, um es klarzustellen, die breite Auswahl überzeugt auch so.)

Cathy Marston als selbstdeklarierte «Storyteller» fügt die einzelnen Lebensstationen in geschickter Dramaturgie zu einem fließenden Ganzen. Dazu entwickeln sie und die brillante Kompagnie einschließlich des Junior Balletts eine immer wieder überraschende Vielfalt an körperlichen Ausdrucksmitteln mit Schrittfolgen, Gebärden, Windungen und Drehungen, Schleif- und Hebefiguren. Dazu kommen expressive, verschlungene Zweier- und Dreierkonstellationen. Das Bewegungsrepertoire fußt zwar auf dem Kanon des klassischen Tanzes, geht aber weit darüber hinaus, indem eine eigenständige Körpersprache formuliert wird, die bei aller Anschaulichkeit die Grenze zur bloßen Pantomime zwar gelegentlich tangiert, aber nicht überschreitet. Ein Beispiel dafür ist die fulminante Dirigierszene, die jäh in Chaos umschlägt und Roberts durch die sich anbahnende Krankheit akzentuierte Überforderung im Amt als Städtischer Musikdirektor grausam vorführt.

Immer jedoch wird darauf geachtet, dass nicht allein die konkrete Aktion vertanzt wird, sondern dass Emotionen – Liebe, Freude, Schmerz, Abwehr, Enttäuschung – die Körper der Tanzenden durchdringen. Auffallend sind einzelne, fast leitmotivische Gesten: beispielsweise die ausgebreiteten Arme, als würde eine ganz Klaviatur umgriffen; die sich pianistisch überkreuzenden Hände; die angewinkelten Arme, die an die Mechanik einer Tastatur denken lassen... 


Selbst die kleinen Rollen sind vorzüglich besetzt und sorgfältig herausgearbeitet. Esteban Berlanga profiliert sich als eisiger Friedrich Wieck, der seine begabte Tochter um jeden Preis fördern will und sie für sich beansprucht, was er mit ruppigem Verhalten gegenüber seiner geschiedenen Frau Mariane (Shelby Williams) und deren zweitem Mann Adolph Bargiel (Joel Woellner) durchsetzt und, später, auch die Verbindung Claras mit Robert zu hintertreiben sucht. (Die Heirat zwischen Clara und Robert wurde schließlich erst 1840 durch richterlichen Beschluss ermöglicht.)

 

Heitere Akzente im ernsten Geschehen

Bemerkenswert sind immer wieder fein gesetzte ironische Akzente, die dem weitgehend ernsten Gehalt eine spielerische Note vermitteln. Etwa wenn Robert und seine Kumpels in einem furiosen Stuhlballett tüchtig aufdrehen. Wenn er, im Hause Wieck, der Haushälterin Christel (Francesca Dell’Aria) Avancen macht, bevor es zum ersten Kuss mit Clara kommt. Und die anderen sechs Claras sich für diesen ekstatischen Moment auf die Zehenspitzen heben. Subtil ebenfalls, wenn zu einer Liebesszene der Protagonisten im 2. Akt sich unter den Kostümen der Claras runde Bäuchlein abzeichnen – Clara war unentwegt schwanger und hat acht Kinder zur Welt gebracht; ein Junge verstarb als Säugling. Auf der Bühne sind allerdings nur fünf Sprösslinge zu sehen, aber auch sie witzig eingesetzt, wie sie dem Papa Robert das konzentrierte Arbeiten erschweren, während die besorgte Clara die Schar in Schranken zu halten versucht.

Die Auftritte der Claras in corpore sind besonders magische Momente. Die anmutigen Gestalten mit ihren abgezirkelten Bewegungen und oft auf Spitze wirken dann wie ein antiker Chor, der das Geschehen beobachtet, gestisch kommentiert und verdeutlicht, mal heiter verspielt, des Öfteren aber beklemmend. Beispielsweise wenn sie sich fast wie Klageweiber um den todgeweihten Robert gruppieren, den man nach seinem Suizidversuch auf den Flügel bettet. Er hatte in einem psychotischen Schub erst seinen Ehering in den Rhein geworfen und sich dann selbst in die Fluten gestürzt. All dies spielt und tanzt der kraftvolle, virile Karen Azatyan hervorragend. Er ist ein grandioser Schumann, der die Genialität ebenso wie die Zerrissenheit des Komponisten mit glühender Intensität zum Ausdruck bringt, aber stets auch Verletzlichkeit und Melancholie mitschwingen lässt. Und wenn die Ärzte der Irrenanstalt Bonn-Endenich Clara den Besuch ihres sterbenden Ehemanns verwehren – noch einmal erweist sich der Flügel als schicksalsträchtige Insel –, so schluckt man leer... 

Im Herbst 1852 spricht der blonde, bartlose 20-jährige «Herr Brahms aus Hamburg» bei den Schumanns vor, wird spontan herzlich aufgenommen und binnen kurzem in die zahlreiche Familie integriert. Schumann begegnet dem jungen Kollegen mit geradezu überschwänglicher Begeisterung, was sich in einem schwärmerischen Pas de deux der beiden ausdrückt, in welchem sich Clara ihren Platz behaupten muss. Chandler Dalton gibt den jugendlichen Brahms – auch äußerlich sehr passend – mit juveniler Emphase, die unterschwellig einen tiefgründigen, komplexen Charakter erahnen lässt. Manierlich, wie er anfänglich mit der Kinderschar spielt. Und beklemmend, wie er nach Schumanns Tod das Haus verlässt, sinnigerweise zu den Klängen des elegischen Mittelsatzes seines 1. Klavierkonzerts, das man als Gebet für den Verstorbenen, aber gleichfalls als musikalisches Porträt der lebenslänglich verehrten Clara auffassen kann. Doch er will und muss seiner Berufung folgen, die ihm auch im weiteren Leben enge Bindungen, eine Ehe gar, verwehren wird. Das wäre dann Stoff für einen weiteren Ballettabend…

Zurück bleiben die sieben Claras, nun in schwarzen Kleidern – auch die echte Clara soll ab dato zeitlebens Schwarz getragen haben. Für die Witwe Schumann beginnt ein neuer Lebensabschnitt. Sie wird die tragische Zäsur um vierzig Jahre überleben. Ihr letztes Konzert gibt sie als 71-Jährige 1891 in Frankfurt.

 

Applaus für eine bewundernswerte Frau und Künstlerin. Und für alle Beteiligten eines berührenden Ballettabends!

Szenenfotos: © OHZ – Carlos Quezada


13. 10. 2024

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4 Kommentare


Gast
17. Okt.

Dein Bericht zu "Clara" ist wunderbar, genauso wie das Ballet selbsr. Mich hat es sehr berührt.

V. F.

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Gast
14. Okt.

Super Aufführung, super Text. Man ist nochmals mitten drin. Ich bewundere nicht nur Ihre Formulierungen, sodern auch auch Ihre exakte Beobachtungsgabe – und staune, was mir alles entgangen ist.

🤔

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Gast
14. Okt.
Antwort an

Vielen Dank. Da gibt’s nu eins: Nochmals hingehen!

Gruss vom rauchszeichner

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Gast
14. Okt.

Wunderbarer Text über einen eindrücklichen Ballettabend.

R. G.

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