Erster Höhepunkt
Erstaunlich, dass die junge Kunstgattung bereits wenige Jahre nach ihrem Florentiner «Début» einen ersten Höhepunkt erreicht: Der 24. Februar 1607 ist das Aufführungsdatum von Claudio Monteverdis «L’Orfeo» am kultivierten Hof der Gonzaga zu Mantua, mithin an jenem Ort, wo um 1480 der mythologische Sänger erstmals die Bühne betreten hatte (s. Teil I).
Erstaunlich ist aber ebenso, dass just diese erste wirkliche Oper nicht im zeittypischen Kontext aufgeführt wird: kein herzoglicher Geburtstag, keine Fürstenhochzeit oder Inthronisation liefert den gesellschaftlichen Hintergrund. Auch verzichtet die Inszenierung, den spärlichen historischen Angaben gemäss, weitgehend auf das beliebte optische Gepränge, das sich bei diesem Stoff – zumal in der Unterweltsszene – geradezu aufgedrängt hätte; gerade mal drei Szenenwechsel sind vorgesehen, ja einzelne Forscher vertreten gar die Auffassung, dass es sich eher um eine halbkonzertante Aufführung gehandelt habe. Sicher bot die Galleria degli specchi, Schauplatz des Geschehens, gar nicht Raum für opulente Szenerien. Und alles deutet darauf hin, dass es sich beim Publikum um einen ebenso intimen wie exquisiten Kreis Kunstsachverständiger und humanistisch Gebildeter handelte: Mitglieder der Accademia degli Invaghiti. Aber ebenso ist nicht auszuschliessen, dass man mit der Vertonung des bekannten Stoffs den präpotenten Florentinern zeigen wollte, wie man es auch hätte machen können – und besser. Jedenfalls ist Herzog Vincenzo vom neuen Werk derart angetan, dass er es, obwohl er sämtliche Proben mitverfolgt hat, gleich nochmals einem grösseren Publikum zugänglich machen will: im öffentlichen Theater von Mantua, das 4000 Menschen fasst.
Anders als Rinuccinis Dichtung erzählt Monteverdis Librettist Alessandro Striggio nicht die Tragödie eines Menschen, welcher göttlicher – und im übertragenen Sinn auch feudaler – Macht und Willkür ausgesetzt ist, sondern der sein Glück erkämpft und wieder verspielt. Der fatale Blick zurück wird nicht wie in Rinuccinis Version ausgespart. Er erhält vielmehr die bittere Konnotation des «Verweile doch» – der kurze Moment im Angesicht der Geliebten, dem der endgültige Verlust, das Nichtfesthalten-Können, folgt. So steht Orpheus am Schluss allein, seine Weggenossen – Hirten und Nymphen – sind zusehends verschwunden: die Conditio humana hat die pastorale Idylle eingeholt. Bezeichnenderweise bleiben denn auch alle anderen Personen mehr oder weniger marginal. Und Monterverdi lässt zur Illustration dessen seinen Orfeo am Schluss mit dem Echo seiner eigenen Stimme, dem Symbol unerfüllter Liebe, in Dialog treten.
Philippe Huttenlocher als Orfeo în der legendären Aufführung
des Gespanns Nikolaus Harnoncourt und Jean-Pierre Ponnelle (Zürich, 1978)
Gegenläufig zu dieser linearen Desintegration des Protagonisten zeichnet sich das fünfaktige Werk durch eine strukturelle Symmetrie aus, die geradezu an die etwa zeitgleiche palladianische Architektur erinnert (Andrea Palladio war 1580 gestorben). So kann der mittlere Akt als Zentrum begriffen werden um den sich die vier andern symmetrisch gruppieren: Dem 2. Akt, wo die Festfreude jäh von der Todesnachricht durch die Botin unterbrochen wird, entspricht der 4. mit dem Glück Orpheus’ über den kurzfristigen Erfolg und dem erneuten, endgültigen Verlust; dem 1. Akt mit den Hochzeitsvorbereitungen steht der 5. mit der Apotheose gegenüber. Eröffnet wird das Spiel durch einen kurzen 5-stimmigen Trompetensatz, die berühmt gewordene Toccata, und einen Prolog der Musica, der ebenfalls fünf Strophen umfasst. Für den Schluss liegen zwei Fassungen vor: das Textbuch, das zum Nachlesen bei der Uraufführung abgegeben wurde – eine Tatsache, welche die Wichtigkeit des Worts unterstreicht –, sowie die gedruckte, dem Erbprinzen Francesco gewidmete Partitur von 1609 und 1615. Dort wird Orpheus der Sage gemäss von den Bacchantinnen zerrissen, hier von seinem Vater Apoll in himmlische Sphären entrückt. Ballett, Chor und eine instrumentale Moresca bilden den Abschluss.
Der 3. Akt selbst weist in sich wiederum eine symmetrische Binnenstruktur auf, deren Angelpunkt Orfeos «Possente Spirto» bildet. Es wäre indessen, so die Musikwissenschafterin Silke Leopold zu Recht, «terminologisch unvorsichtig, [dieses Stück] als die erste vollgültige Opernarie zu bezeichnen, weil die Form, ein ausgeziertes Strophenrezitativ, sich immer noch am Text und nicht an einer periodischen musikalischen Struktur orientiert; und dennoch zeigt Orpheus hier zum ersten Mal seine [...] Eignung [...] als Opernheld, der ein Publikum zu begeistern vermag».
Striggios Verse, die diesem historischen Moment zugrunde liegen, wo – virtuoser – Kunstgesang zum expliziten Gehalt der Handlung wird, sind in Terzinen gefasst, wie sie Dante in der «Göttlichen Komödie» verwendet: charakterisiert durch dreizeilige Strophen zu je elf Silben und das kettenbildende Reimschema (aba, bcb, cdc usw.). Die Hoffnung – die personifizierte Speranza – leitet Orpheus zum Höllentor. Dort verlässt sie ihn, Verzweiflung übermannt ihn – durchaus im Einklang mit dem angeführten Zitat Dantes: «Lasciate ogni speranza voi ch’entrate.» Der pharisäerhaften Starrheit Charons setzt Orfeo seinen bewegten und bewegenden Gesang entgegen. Der mit äusserst vertrackten Koloraturen, Melismen, Trillern und sonstigen Finessen der damaligen Vokalkunst gespickte Vortrag und – in der letzten Strophe – eine innige Kantilene sollen dem Ohr des höllischen Fährmanns schmeicheln. Doch dieser weist das Ansinnen mit unerbittlicher Sturheit zurück, und Orpheus versinkt erneut in Verzweiflung: «Sperar dunque non lice.» (Ist mir nicht mehr erlaubt zu hoffen?) Doch die orphische Kunst lässt Charon – pikanterweise – prompt einnicken; der vorherigen emotionalen Rigidität entspricht jetzt die körperliche Starre des Schlafes. Zu den Klängen der Orgel setzt Orfeo über den Styx, beflügelt von neuer Hoffnung, welcher der Chor mit seinem «Nulla impresa per uom ...» Ausdruck gibt, worin sowohl die renaissancehafte Weltanschauung über die Selbstbestimmung und Eigenverantwortung des Menschen als auch seine Superbia mitschwingen.
Wie sehr Monteverdi neben diesen tektonischen Zusammenhängen auch das Klangliche im Auge bzw. im Ohr hatte, zeigt sich an der Wahl des Instrumentariums in der besagten «Arie» und in den verbindenden Ritornellen: Wo Orfeo die höllischen Mächte und den Tod besingt, erklingt der Zink als traditionelles Instrument der Unterwelt – die jenseitigen Posaunentöne werden fast zweihundert Jahre später auch Don Giovanni zur Hölle fahren lassen! Wenn Orpheus von Eurydike und dem durch Liebe verheissenen Paradies redet, ertönt bezeichnenderweise die Harfe. Dort aber, wo Orpheus von sich und seinem Anliegen spricht, werden seine Worte zu den akkordischen Instrumenten Laute und Chitarrone durch die Violinen kommentierend umspielt. Hier zeigt sich Monteverdis Absicht, Wort und Gedanken durch einen spezifischen Instrumentenklang zu versinnbildlichen, was er durch die gelegentliche Angabe in der Partitur mitteilt, auch wenn sie nicht durchweg mit den «Stromenti» im Verzeichnis übereinstimmt, so dass der heutigen Interpretation ein gewisser Spielraum bleibt, verbunden mit dem Anspruch an die improvisatorischen Fähigkeiten der Ausübenden.
Zum zweiten Mal verloren: Krystian Adam (Orfeo) und Miriam Kutrowatz (Euridice) © Opernhaus Zürich, 2024 , Regie Evgeny Titov – Bild: Monika Rittershaus
Es kann hier nicht darum gehen, den Reichtum der Partitur zu würdigen – etwa die Zuordnung der Instrumente zu den verschiedenen Sphären der Ober- und der Unterwelt oder das geradezu modern anmutende irrationale Fortschreiten der Harmonien, wenn Orfeo das Schreckliche zu begreifen versucht. Die dramaturgisch wichtige Stelle des Umwendens (IV: «Qual onor di te fia degno» – Welch Ehre ist deiner würdig) verdient indes in diesem Zusammenhang der Erwähnung. Über einem klar rhythmisierten ostinaten Bass entwickelt sich ein beschwingtes Andante, andante im Wortsinn: ein hoffnungsfrohes «Wanderlied», das jäh stockt, als Orpheus zweifelt, ob ihm Eurydike auch wirklich folgt. Nach einem erregten Rezitativ (secco, wie wir heute sagen würden), das sich zu einem dramatischen «Ed io consento?» steigert, folgt über einem nahezu tonlosen Orgelpunkt die Klimax: Orpheus wendet sich um, ein scharfer Akkord – und Eurydike ist für immer verloren...
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