Über das unsterbliche Faszinosum jener Kunst, die wie keine andere in klingende Traumwelten entführt. Und selbst Liebesweh und Todesschmerz versüsst.
Ikone des Belcanto: Maria Callas singt «Casta Diva» anlässlich des legendären Konzertes in Paris (19.12.1958)
Belcanto – Schon das Wort selbst zerfliesst auf der Zunge, als wär’s eine Vokalise. Piano, fast zärtlich mit einem weichen Labiallaut beginnend, verbreitert sich der Klang, gewinnt an Volumen und kulminiert erstmals in einem verhaltenen c-Explosiönchen unter dem Gaumensegel. Lässt sich sodann vom breit strömenden Atem wie auf Flügeln des Gesangs hinwegtragen – exzentrische Diven würden auf dem -a- zweifellos eine halsbrecherische fioritura oder zumindest eine effektvolle messa di voce einbauen. Dann ein zweiter Akzent durch den Verschluss von Zunge und Zähnen; konsonantische Fermate sozusagen, die sich schliesslich zu einem bewundernden, spannungsvollen Vokal rundet: o – Oh, Belcanto! Incanto!
Tatsächlich löst die Kunst des Belcanto, dessen Zauber mit der wörtlichen Übersetzung des «Schön-Gesangs» nur unzulänglich erfasst wird, eine Vielzahl von Reaktionen aus, unter denen das geniesserische Schliessen der Augen, das peinliche Aufsteigen von Tränen der Rührung oder das noch peinlichere unkontrollierte Pendeln des Oberkörpers im Gleichklang von Rhythmus und Empathie nur die sichtbarsten sind. Doch können diese selbst dort beobachtet werden, wo die dramatische Situation eigentlich einen ganz anderen emotionalen Respons erwarten liesse. Weil: Da hat, beispielsweise, ein bleiches Geschöpf mit loderndem Blick im Delirium den aufgezwungenen Gatten noch in der Brautnacht erdolcht und haucht nun in zerbrechlichen Koloraturen, begleitet von den entmaterialisierten Tönen von Glasharfe bzw. Flöte, die Seele aus. Ein anderes fragiles Wesen balanciert schlafwandelnd auf schmalem Steg über tödlichem Abgrund und konfrontiert die heile Alpenwelt und die dazugehörige Dorfgemeinschaft mit neurotischen wie mit gesangstechnischen Delikatessen. In einem dritten, etwas harmloseren Fall trällert sich eine zerlumpte, misshandelte Dienstmagd beim Staubwischen und Erbsenzählen in eine fiktive, bessere Welt, die nach einigen Quiproquos – und sehr zum Missfallen der zickigen Stiefschwestern – auch wirklich Gestalt annimmt: viril, prinzlich, tenoral.
Lisette Oropesa als Lucia di Lammermoor (Gaetano Donizetti) (Bild: © OHZ – Toni Suter)
Doch wir, was tun wir? Statt den erstbesten Arzt zu alarmieren, die Polizei, die Ambulanz oder doch zumindest das Kamerateam des Fernsehens – sitzen wir da, paralysiert, und lassen uns von den besagten und ähnlich schrecklichen Schicksalen wonnevoll einlullen. Sind diesen Herzenstönen machtlos ausgeliefert, diesen bezaubernden Melodien, von denen schon Richard Wagner (1813–1883) mit Bezug auf Vincenzo Bellini (1801–1835) gesagt hatte: «Was uns […] begeisterte, war die reine Melodie, die einfache Würde und Schönheit des Gesangs.» Er hatte dabei vor allem dessen Oper «Norma» im Auge bzw. im Ohr.
Auch wenn wir Heutigen den Ausdruck Belcanto verwenden, so erklingt vor unserem inneren Ohr fast automatisch die Auftrittsarie der Norma, «Casta Diva». Wie kaum ein zweites Vokalstück enthält diese Cavatine exemplarisch die Ingredienzien, die das Wesen des Belcanto im Gesanglichen wie im Kompositorischen ausmachen. In überlangen Kantilenen, mit zwischen Moll und Dur oszillierenden Melismen und ätherischen Koloraturen beschwichtigt die Druidenpriesterin ihre gewiss nicht allzu sensiblen Landsleute, mit dem Aufstand gegen die römische Besatzungsmacht noch etwas zuzuwarten. Und Bellini gelingt es hier in geradezu naiver Genialität, über einem relativ bescheidenen Orchesterpart eine atmosphärisch-emotionale Aussage von einprägsamer Klassizität zu formulieren. Poesie als Musik gewordene Sprache, dazu befähigt, das Unsagbare auszudrücken. (Bellini soll sich mit der Szene übrigens erst nach mehrmaliger Umarbeitung zufriedengegeben haben.)
Maria Agresta als Norma (Vincenzo Bellini) (Bild: © OHZ – Toni Suter)
Wagner – zumal in jüngeren Jahren – findet erstaunlich viel Gefallen an der mediterranen Melodienseligkeit, ja, er betet sogar dafür, dass es deutschen Komponisten dereinst vergönnt sein möge, Gesang und Melodie aus diesem Geist zu schaffen: «Gesang, Gesang und nochmals Gesang! Bellini hätte wahrscheinlich mehr gelernt [i. e. bezüglich des musikalischen Satzes, BR], wenn er bei einem deutschen Dorfschullehrer in die Lehre gegangen wäre, aber er hätte die Kunst des Gesanges verlernt.» Und von Rossini, den er einmal halb bewundernd, halb abschätzig als «Verfertiger künstlicher Blumen aus Samt und Seide» bezeichnete, meint er: «Alles Organisieren der Form liess er ganz beiseite; erfüllte [diese] dagegen mit dem ganzen folgerichtigen Inhalte, dessen sie einzig von je bedurft hatte: narkotisch-berauschender Melodie». Und: «Über den pedantischen Partiturenkram sah er hinweg, horchte dahin, wo die Leute ohne Noten sangen und was er da hörte, war das, was am unwillkürlichsten aus dem ganzen Opernapparate im Gehöre haften geblieben war, die nackte, ohrgefällige, absolut melodische Melodie, d. h. die Melodie, die eben nur Melodie war und nichts anderes…» Schreibt ausgerechnet Herr Wagner in seiner umfangreichen Schrift «Oper und Drama», erschienen 1852 und damit anderthalb Jahrzehnte, bevor er 1868 – just im Todesjahr Rossinis – einen Schuster namens Sachs auf die Bühne hievt, der vor welschem Dunst und Tand warnt.
Aber recht hat der deutscheste aller deutschen Komponisten schon. In keinem anderen Kulturkreis, keinem anderen Sprachraum hätte sich diese Kunstform entwickeln können als eben hier, wo Sprache und Gesang seit Dante eine Einheit bilden. Der Poeta laureato bezeichnete die hundert Teile seiner «Göttlichen Komödie», entstanden an der Schwelle von spätlateinischer und frühitalienischer Zeit, sinnigerweise und in Anlehnung an die antiken Vorbilder als canti (Gesänge).
Und ebenso wenig ist es Zufall, dass just in diesem Land dreihundert Jahre später eine Schar neuplatonischer Schöngeister aus der Florentiner Haute Volée sich zum Ziel gesetzt hatte, mit der «Re-Invention» der Oper den seit Generationen bedauerten Verlust der antiken Einheit zwischen Wort und Gesang wieder zum Leben zu erwecken. (Was, allen Unkenrufen zum Trotz, mit nachhaltigem Erfolg geschah, wie heutzutage die zahllosen Events in Sportstadien und alten Scheunen belegen).
Belcanto und die Geburt der Oper
So darf denn der Belcanto, vielleicht zum Entsetzen der «echten» Belcantisten, der Adepten eines Rossini, Bellini, Donizetti oder frühen Verdi, sehr wohl mit der Geburtsstunde der Gattung Oper in Verbindung gebracht werden: Nicht der Imitation des Naturlauts galt das Streben; solches sollte dem späten 19. Jahrhunderts mit dem Verismo vorbehalten bleiben. Vielmehr sucht der Belcantist – Sänger wie Komponist – die im eigentlichen Wortsinn artifizielle Überhöhung des brausenden Stroms, der zwitschernden Vögel, der schmeichelnden Winde und ihrer psychologischen Entsprechungen in der eigenen Seele.
Orpheus, «Belcantist» der ersten Stunde (Anselm Feuerbach, 1719)
Daher verwundert es nicht, dass damals, eben um 1600, einer der ersten Opernstars, bestens bewandert in der Umsetzung von Wort zu Ton, in Florenz erstmals die Bühne betrat: Orfeo, der mythische Sänger-Sprecher. Das frühe 17. Jahrhundert darf somit füglich als Beginn der Belcanto-Ära angesetzt werden, und Giulio Caccinis Traktat «Le nuove musiche» (1601 und 1614), worin er sich ausführlichst über die Technik des schönen Gesangs ausbreitet, als eine der ersten Schriften zum Thema – avant la lettre, natürlich, war doch der Terminus «Belcanto», wie wir ihn benutzen, im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert, in seiner Blütezeit also, unbekannt. Vor allem aber umschrieb diese Bezeichnung, wenn man sich denn ihrer bediente, in keiner Weise ein gesangstechnisches, kompositorisches oder ästhetisches Konzept. Als Begriff etablierte er sich paradoxerweise erst, als der Vorhang unwiderruflich über der Belcanto-Oper niedergegangen war: Um 1820 taucht er bei Giovanni Pacini als Titel eines Studienfachs an der von ihm gegründeten Musikschule in Viareggio/Lucca auf und gewinnt dadurch an inhaltlicher Präzsision.
Keinen geringen Anteil an dieser ebenso künstlichen wie kunstvollen Vortragsweise hatten zuvor die Kastraten. Diesen sogenannten evirati hatte das «gebenedeite Messerchen» zu einer weiblichen Stimme von stupender Agilität verholfen, die in einem massiven männlichen Resonanzkörper mit entsprechender Lungenkapazität zu unvergleichlicher Wirkung kam. Mit ihrem Verschwinden, befördert durch den Code Napoléon, der die Entmannung verbot, zerfällt auch jene ideale Kunst des Belcanto.
So weit zurück blicken die heutigen Melomanen allerdings nicht, wenn sie, etwa in Opernpausen oder noch besser beim Anhören knisternder Vinyl- oder Schelllackscheiben im exklusiven Kreise Gleichgestimmter, glauben feststellen zu müssen, dass es die Vertreter jenes kunstvollen Schöngesangs längst nicht mehr gebe; jene betörenden Sirenenstimmen – ob weiblich oder männlich –, die eine reichliche Ausschüttung des Glückshormons Serotonin auslösen und den Verstand weitestgehend ausschalten. Die alles rundherum – das grauslichste Bühnenbild, die unsäglichsten Kostüme, den unruhigsten Sitznachbarn – als bedeutungslos erscheinen lassen.
Mit dieser rege kolportierten Ansicht, dass früher alles und insbesondere die Sänger besser waren, sind diese Vokalpessimisten übrigens in illustrer Gesellschaft. In verschiedenen Gesprächen – anlässlich der Soireen in Passy, vor allem aber in jenem legendären Gespräch mit Wagner im März 1860 – bestätigt Rossini den Niedergang der – in seinem Sinne belcantistischen – Vokalkultur Italiens. Musik, und Gesang im besonderen, sollen als ideale, reine Kunstform kein Abbild der Realität anstreben. Ihre Ausdrucksmittel sind die geschmeidige Kantilene, das phantasievolle Ornament, die Agilität und die Virtuosität. Die italienische Musik, so fordert er, hat «ideal und expressiv», aber keinesfalls «imitativ» zu sein.
Edita Gruberova als Alaide in «La Straniera» von Vincenzo Bellini (Bild: © OHZ – Monika Rittershaus)
Emotion wird Klang
Damit entspricht Rossinis Personalstil, der sich schon in seinen frühesten Werken unverkennbar abzeichnet, dem bereits um 1600 formulierten Konzept. Wo er sich indes dezidiert gegen das von den florentinischen Akademisten proklamierte Prinzip stellt, ist bezüglich der Forderung, dass die Musik Dienerin des Worts sei. Für Rossini kommt der Melodie das Primat zu. Sie orientiert sich zwar immer noch am Text, nutzt diesen jedoch lediglich als eine Art Regieanweisung, indem sie sich von den Akzenten und Modulation des Sprachduktus befreit. Auf diese Weise ist sie imstande, Gemütszustand und Empfindung der Protagonisten nicht über das Wort mitzuteilen, sondern über Klang und Melos. Etwas überspitzt formuliert: nicht über den Intellekt, sondern über das Gefühl. Oder nochmals anders gesagt: nicht beschreibend, sondern evozierend, suggerierend, und zwar mittels einer stilisierten, idealisierten (Musik-)Sprache, die ihren eigenen Gesetzen gehorcht. Diese wird zum eigentlichen Bedeutungsträger und kann so aus beliebigen Worten einen signifikanten Text machen. Genau dies dürfte der Rossini-Verehrer Stendhal in seiner hagiographischen Biographie «Vie de Rossini» gemeint haben, wenn er den durchschlagenden Erfolg der italienischen Oper etwas unbedarft damit erklärt, dass es durchaus genüge, nur den ungefähren Inhalt einer Arie, einer Szene zu verstehen, um die Musik zu begreifen.
Belcantistischer Eskapismus
Der Koloraturgesang der Belcanto-Ära vermag ein ideales Frauenbild von jungfräulicher Reinheit und Fragilität zu evozieren, und zwar selbst dann noch, wenn die äußeren Umstände diese Sichtweise deutlich als Wunschdenken erkennen lassen: Elvira, Lucia, Gilda, Linda, Amina und wie sie alle heissen – ihnen dienen die Koloraturen gewissermaßen als feinstgesponnener Schutzschild wider die ihnen feindlich gesinnte Umgebung, repräsentiert durch skrupellose, wenig couragierte Liebhaber oder durch sture Patriarchen (Mütter sind in der Regel nicht zu finden!), die in Standesdünkel erstarrt oder dem Zwang der gesellschaftlichen Konvention unterworfen sind. Der mit Fiorituren und Trillern gespickte Gesang fungiert sozusagen als Korrektiv für den (vermeintlichen) Verlust von Ehre und Tugend. Er wird zum akustischen Zufluchtsort vor der rauhen Wirklichkeit, nicht zuletzt auch für den Hörer, dem sich eine klingende Traumwelt eröffnet. Um die Mitte des 19. Jahrhunderts musste der Belcanto, eigentlich ein Derivat des Barocks mit seiner Lust am Artifiziellen, am Spiel mit Sein und Schein, einer lebensnaheren Ausdrucksform weichen. Die klang-ästhetische Utopie brach endgültig zusammen: Belcanto addio! Doch auf der Bühne bleibt er unsterblich und sorgt für tosenden Applaus: Belcanto - Incanto!
Wallis Giunta als Angelina in «La cenerentola von Gioachino Rossini (@ Bild: Oper Leipzig – Kirsten Nijhof)
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Ein wunderbarer Text, informativ, witzig, brillant. Chapeau!!!
K. K.